Fragen.Weisen.Spuren - ErMUTigungen für inklusive KinderTAGeseinrichtungen​
  1. Kinder kommen an. Der Tag wird gemeinsam gestaltet.

  2. Kinder kommen vor. Jedes Einzelne verändert das Ganze.

  3. Kinder haben 100 Sprachen. Sie äußern sich erwartungsgemäß oder unerwartet.

  4. Kinder hinterlassen Spuren. Familien bringen Geschichten mit.

  5. Kinder haben schulfrei. Sie wachsen auf Spielwiesen und in Freiräumen.

Fragen spielen eine große Rolle in unserem Suchprozess, auf der neu erstellten Homepage und in unseren Ermutigungen: Wir möchten den Hinweisen folgen, die Fragen eröffnen, wir möchten zurückfragen, hinterfragen und mit Antworten neue Fragen finden. Es erscheint weise, treffende Fragen zu stellen. Und wir finden viele verschiedene Weisen zu fragen. Projekte haben Fragen aufgeworfen und wir haben Spuren aufgenommen. Die Spuren, die uns in Richtung einer inklusiven Kindheitspädagogik zu weisen scheinen, stellen wir hier vor. Wir verstehen sie als Wegweiser, die Anstöße geben, (inklusive) Pädagogik als gemeinsamen Prozess zu gestalten, der nur bedingt vorhergesehen werden kann.

„Sie sind so jung, so vor allem am Anfang, und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten (…) Geduld zu haben, gegen alles Ungelöste in ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“ (Rilke 1929: 6)

Aus den Zeilen Rainer Maria Rilkes, adressiert an einen jungen Dichter, lässt sich die Bedeutsamkeit von Fragen als solchen herauslesen, spricht die Kraft jenseits und vor ihrer Beantwortung. Wir erlauben uns hier auch bei Fragen zu verweilen, zu hinterfragen, uns irritieren zu lassen und um die Fragen kreisend der übergreifenden Frage zu folgen: Wie wollen wir miteinander leben? (Tony Booth)

Aus dieser Frage ergeben sich im pädagogischen Alltag viele weitere – situativ, grundsätzlich, konzeptionell. Vorsichtig nach weiteren Fragen tastend dürfen die Antworten vorläufig bleiben, um nicht festzulegen. Der Vorschlag, aus Fragen eine pädagogische Konzeption zu entwickeln, folgt der Überzeugung, dass „die Unbestimmtheit und damit auch Widerspruch Einzug in diese Disziplin erhalten müssen“ (Mai 2018: 69). Denn die hier versammelten Vorschläge möchten nicht vorgeben, nicht empfehlen, nicht beraten. Sie verstehen Pädagogik als Prozess der Vergewisserung und der Flexibilität, diese auch erschüttern zu lassen. Sie möchten auch entlasten, indem sie Erwartungen an eindeutige Antworten und Vorgehen zurückweisen. Denn pädagogische Expertise kann vielfältige, auch unerwartete Situationen und Umstände begleiten, aber nicht (auf)lösen. Da es bisweilen Mut braucht, Zumutungen zurückzuweisen, bezeichnen wir die Zusammenfassung unserer Anstöße für Kindertageseinrichtungen, die sich als inklusive verstehen und konzeptionieren (möchten), als Ermutigungen.

Ermutigungen: Zur Veranlassung und zur Entstehung

Unsere Ermutigungen fassen die Erkenntnisse einer Lehrveranstaltung (Wintersemester 2020/21 und Sommersemester 2021 in den Studiengängen BA Pädagogik der Kindheit und Familienbildung sowie BA Soziale Arbeit der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln) zusammen, die sich die Aufgabe gestellt hatte, inklusiven Kitakonzeptionen zuzuarbeiten, bzw. Beispiele für solche zu finden und Hinweise für solche zu entwickeln.

Über zwei Semester haben Studierende nach Spuren gesucht, die Kindertageseinrichtungen und deren Konzeptionen als inklusive erkennen lassen. Bezugspunkte waren dabei u. a. der Index für Inklusion sowie Aussagen von Kita-Fachkräften und Beobachtungen aus dem pädagogischen Alltag. Letztere stammen u. a. aus einem Forschungsprojekt, das Barrieren ausfindig machen sollte, die von Behinderung und Migration betroffenen Familien im Weg stehen. In dem Projekt hatte sich gezeigt: Auch die Fachkräfte stoßen auf Barrieren in ihrem pädagogischen Alltag. Diese hindern sie daran, benachteiligte und von Behinderung bedrohte Kinder und ihre Familien pädagogisch bestmöglich zu begleiten und zu unterstützen.

„Für mich persönlich ist die Arbeit am Kind der Fokus, also ich liebe es, deswegen habe ich mich auch für diesen Beruf entschieden, und ich bereue kein bisschen, ich komme jeden Tag mit Freude zur Arbeit hin, weil das Tolle an Kindern ist, die sind individuell.“ (Kita-Fachkraft)

In den Befragungen, die im Projektverlauf durchgeführt wurden, äußern sich die Fachkräfte übereinstimmend zur Freude an der Arbeit mit den Kindern. Im weiteren Verlauf der Interviews geht es dann kaum noch darum; stattdessen werden Verunsicherungen thematisiert, die nicht aus dem primär pädagogischen Auftrag, sondern aus verwaltenden Anforderungen folgen: Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfes und die Entscheidung über dessen Einleitung, Vermittlung desselben an Eltern und andere Formen der Familienzusammenarbeit, Akquise von Ressourcen, Kommunikation in verschiedenen Sprachen, Vorbereitung auf Schule, Organisation von Eingewöhnung und anderen Übergängen nach entsprechenden Transitionsprogrammen, interdisziplinäre Vernetzung in Sozialraum und mit Hilfesystemen, eine der Migrationsgesellschaft angemessene, vorurteilsbewusste, barrierefreie, inklusive, partizipative Präsentation der Einrichtung und vieles mehr. In Ratgebern, Konzeptionen und Wertvermittlern, die sich nachfrageorientiert und digital potenziert verbreiten, werden Antworten angeboten. Im fragenden Prozess hingegen geht es darum, die gemeinschaftliche Gestaltung suchend und reflektierend im Sinne der aktuell Beteiligten abzustimmen. Im Verzicht auf Festlegungen schlagen wir eine Umkehr zum pädagogischen Ursprung vor.

Widersprüchliche Erwartungen an pädagogisch Tätige und vielfältige, steigende Anforderungen rücken die eigentliche pädagogische Aufgabe im Tages- und Jahresverlauf in den Hintergrund. Qualitätsentwicklungen und Verwaltungswege greifen Raum im Szenario der Bildungskindheit, um in deren bedeutsamen frühen Jahren nichts zu versäumen. So hat die „Entdeckung der frühen Jahre“  der Frühpädagogik und ihren Institutionen bildungspolitische Aufmerksamkeit geschenkt, wissenschaftliche Ambitionen erweckt und die pädagogische Professionalität aufgewertet. Das entdeckte Terrain wird seitdem erkundet, vermessen und bewirtschaftet. Aber die damit steigenden Anforderungen an Fachkräfte lassen fragen, ob der Entdeckung folgend – um bei diesem Bild zu bleiben – Eroberungen und Vereinnahmungen das pädagogische Feld entfremden? Die die Interviews bestimmenden Themen erhärten diesen ‚Verdacht‘ ebenso wie Programme und Zertifizierungen, denen Einrichtungen gerecht zu werden bemüht sind.

So befragt, mögen die fünf Formulierungen, die unsere Erkenntnisse zusammenzufassen versuchen, gleichermaßen in Studium und (Aus)Bildung Mut machen wie in der Praxis (kindheits)pädagogischer Einrichtungen. Ermutigend schließen sie an das im Vorjahr formulierte Manifest an, welches inspiriert durch das Genter Manifest (2018) dazu aufforderte, besser „…über bekannte Regeln (zu) streiten, als dass wir, jeder im Stillen, die ungeschriebenen und damit umso wirkmächtigeren Regeln weiterhin befolgen“. Zum Fragen ermuntern und im Hinterfragen Zumutungen ebenso wie stereotypisierende Antworten zurückweisen – so kann die Einladung formuliert werden, Anstöße zur Forschungsbasierten Praxisentwicklung für inklusive Kindertages­ein­richtungen zu finden und weiterzudenken, denn: Fragen.Weisen.Spuren. Sie bilden Puzzleteile einer Kindheitspädagogik, die sich inklusiv gestalten möchte und schaffen Orientierung im Dickicht bildungspolitischer Umarmungen (vgl. Dannenbeck et al. 2016). So stellen wir uns (an und mit kleinen Beispielen) eine inklusive Pädagogik vor, die sich von disziplinfremden Vereinnahmungen lösen und auf sich selbst rückbesinnend „vielleicht eines fernen Tages in die Antwort hinein“ (Rilke s.o.) leben wird.

1. Kinder kommen an. Der Tag wird gemeinsam gestaltet.

Pädagogischer Alltag, ein Tag in einer Kita, das heißt: Ein Kind, eine Erzieherin macht sich am Morgen auf den Weg, um  in der Kita ‚einfach nur‘ einen unbeschwerten, schönen Tag erleben zu wollen; eine Mutter, ein Vater möchten ihr Kind dort gut aufgehoben wissen.

„Wie können die Prioritäten jedes einzelnen Tages und seine jeweiligen Besonderheiten dazu genutzt werden, eine Umgebung zu schaffen, in der Kinder uns erzählen, was sie denken? Und was geschieht mit denen, die Außenseiter bleiben?“ (Paley 1992: 29)

Vivian Gussin Paley, die das fragt, lehrte als Lehrerin, Theorieschaffende und Geschichtenerzählerin an der University of Chicago im Studium von Kindergärtner*innen. Die pädagogische Weisheit, die ihre Bücher ausstrahlen, wächst aus den Geschichten, die sie im täglichen Zusammensein mit Kindern gehört, erlebt, gemeinsam erzählt und weitergegeben hat. Sie sind Ausgangs- und Angelpunkt der Fragen, die ihre (erziehungswissenschaftliche) Theorie bilden.

Zwischen dem ‚Ankommen‘ und dem ‚Verabschieden‘ verleben Kinder und Erwachsene in der Kindertageseinrichtung miteinander den einzelnen Tag und zumeist mehrere Jahre. Die gemeinschaftliche Gestaltung eines Tages ist damit ein exemplarisches Moment gemeinsamer Weltgestaltung. Wenn die Besonderheiten eines jeden Tages die für alle Beteiligten angenehme Umgebung schaffen, kann diese als inklusive gelten. Wenn dabei alle im Blick bleiben, ist das die Grundlage einer inklusionspädagogischen Aufmerksamkeit jenseits von Eingewöhnungs- oder Übergangskonzepten. Das Vertrauen, dass die Kinder auf ihre je eigene Weise zwischen Vorfreude, Gleichgültigkeit und Bedenken in der Einrichtung ‚ankommen‘, lässt zuversichtlich auf den (allerersten sowie den täglich wiederkehrenden) Übergang in die Kita blicken. Darin, nicht im Umsetzen eines Eingewöhnungskonzepts, gestalten sich pädagogische Momente.

Die Rhetorik von ‚Eingewöhnung‘ legt die Erwartung an Kinder nahe, sich einzulassen und anzupassen. Die Rhetorik von ‚Konzepten‘ impliziert einen vorgegebenen, bestenfalls evident erprobten Ablauf, dem das pädagogische Personal folgt. Wir ermutigen zu einer bescheideneren/vorsichtigeren Perspektive: Das Ankommen ist ein großer Moment – ihm darf Aufmerksamkeit gewidmet werden, denn mit der ersten Begegnung beginnt das Kennenlernen. Kann sich dieser Anfang verallgemeinern lassen oder entfaltet er sich erst in seiner Unverwechselbarkeit?

Auch die Fragen des Index für Inklusion beginnen hier, am Anfang: „Werden Menschen beim ersten Kontakt mit der Einrichtung freundlich empfangen?“ – die erste von über 500 Fragen steht programmatisch für ein Willkommen vermittelndes Ankommen, und damit für Zugänglichkeit, die mit Barrierefreiheit beginnt. Wenn der Zugang erlangt wurde, wird es jedoch ernst: Wie angemessen zeigt sich der Ankunftsort, haben sich Reise und Vorfreude gelohnt, was lässt die Bleibe erwarten? Mut zum Vertrauen darauf, dass das Kind ankommt sowie Mut und Zeit zur Begegnung aller Beteiligten jenseits regulierender Rahmungen – so lässt sich die erste Ermutigung zusammenfassen.

Der Hinweis für eine (inklusive Konzeption): Weniger ist mehr.

2. Kinder kommen vor. Jedes Einzelne verändert das Ganze.

Mit dem ersten großen Schritt verändert sich für die Neuankömmlinge die Umgebung und diese verändert sich gleich mit, denn: Jedes neue Einzelne verändert das Ganze. Die Kindergruppe erfährt Erneuerung mit jedem neuen Kind.

„All children are special“, sagt Forrest Gump im gleichnamigen Film – haben auch alle „special needs“? Die Salamanca-Resolution führt dies in den 1990-er Jahren aus, indem sie das gemeinsame Recht auf Bildung formuliert für „… all children regardless of their physical, intellectual, social, emotional, linguistic or other conditions. This should include disabled and gifted children, street and working children, children from remote and nomadic populations, children from linguistic, ethnic or cultural minorities and children from other disavantaged or marginalized areas of groups…” (Salamanca Statement on Principles, Policy and Practice in Special Needs Education 1994: 3ff.)

Die Berücksichtigung so verschiedener Lebenswelten, Hintergründe und Bedürfnisse ist einer der frühen Ausgangspunkte inklusiver Pädagogik. Wenn Bildung available / verfügbar und accessable / zugänglich ist, haben alle Kinder die Chance, in der Kita anzukommen. Wenn Bildung acceptable / angemessen und adaptable / veränderbar (4-A-Scheme, Deutsche UNESCO-Kommission 2010) ist, kommen alle Kinder auch vor.  Sie erleben Einfluss auf das Geschehen durch Anwesenheit und Zugehörigkeit. Ob Tage und Räume angemessen gestaltet sind oder angepasst werden müssen, zeigt jedes Kind neu an. Die Anwesenheit eines jeden Einzelnen macht einen Unterschied, bestimmt maßgeblich mit, prägt oder erweitert Normvorstellungen und verändert Routinen. Das Zusammenspiel dieser Einzelnen gestaltet das unverwechselbare Ganze. Als inklusive erweist sich die Einrichtung nicht durch die Repräsentanz größtmöglicher Diversität, sondern dadurch, wie die Verschiedenen miteinander agieren.

Als würde sie auf Paleys Frage (s.o.) „Und was geschieht mit denen, die Außenseiter bleiben?“ antworten, formuliert eine Kita-Fachkraft im Interview das Anliegen:

„Ja, ich denke ganz einfach, dass ganz viele Kinder ihren Platz im Leben finden müssen und es kommt halt nicht darauf an …, aus welchem … Hintergrund sie kommen, ob aus Migrationshintergrund, oder ob sie jetzt deutsch sind, aber es gibt ja Umstände im Leben, wo man vielleicht es nicht besonders leicht hat im Leben, nicht so einen besonders leichten Start hat. Ich denke, da darf niemand jetzt irgendwie ausgeschlossen oder ausgestoßen sein.“ (Kita-Fachkraft)

Eine andere Erzieherin berichtet: „Nicht alle Kinder brauchen zur gleichen Zeit das Gleiche. Eine Erzieherin muss das schon wissen. Die Kinder verstehen es, wenn wir uns um ein Kind in einer besonderen Situation auch besonders kümmern.“ (Iglesias 2017: 50)
Paley (1992: 169) schreibt über ihren Schüler Jason, er „beweist mir in regelmäßigen  Abständen immer wieder, daß sich die Kinder am besten mit Hilfe der Kultur, die sie selbst schaffen, in die Klasse einfügen können“. (Paley berichtet in ihren Büchern aus einer Vorschule, darin erklärt sich der Begriff Klasse und Schule auch für Kinder unter 6 Jahren, anders als im deutschen Bildungssystem.) Ein Kind schafft eine Kultur, bringt diese mit in die Gruppe – es kommt vor. Das dürfte auch eine Freude für Familien und Besucher*innen sein, denen sich die Kita in der Sichtbarkeit von Kindern mit deren Bildern, Namen, Fotos, Kunstwerken präsentiert.

Der Hinweis für eine (inklusive) Konzeption: Kinder kommen vor (in) Konzeptionen.

3. Kinder haben 100 Sprachen. Sie äußern sich erwartungsgemäß oder unerwartet.

Hat nicht jede*r das Recht, sich unerwartet zu benehmen? (Platte/Krönig 2017: 77)

In Kindertageseinrichtungen werden viele verschiedene Sprachen gesprochen. Erwartungen bezüglich des Erwerbs der deutschen Sprache führen dabei gelegentlich zu Fehleinschätzungen, denn Verläufe des Spracherwerbs sind besonders bei Mehrsprachigkeit unterschiedlich. Eine Sprachfördererzieherin berichtet: „Wir halten jeden Menschen dazu an, in der Sprache zu sprechen, in der er oder sie sich am wohlsten fühlt.“ (Iglesias 2017: 53)

Argyro Panagiotopoulou, eine Migrationsforscherin, die zu Mehrsprachigkeit in der Frühen Kindheit forscht, nutzt in ihren Arbeiten den Begriff der Quersprachigkeit. Damit sind kreative Sprachmischungen gemeint, die zur Natur der Bilingualität gehören. Spracherwerb, das sagt die Mehrsprachigkeitsforschung, läuft dynamisch ab. Kinder, die mehrere Sprachen sprechen, wechseln zwischen diesen oft mühelos und spielerisch. Sprache und Dialekt haben emotionale Bedeutungen und sind mit Erinnerungen und Erlebnissen verbunden – neben Herkunftssprachen und Familiensprachen gibt es Herzsprachen, Mehrheitssprachen und Geheimsprachen. Erinnerungen an Sprachen können romantisch oder schmerzhaft sein. Gescheiterte Versuche, eine Sprache zu lernen, ausgelacht zu werden wegen eines Dialektes oder auch das beglückende Empfinden, in mehreren Sprachen zuhause zu sein, begleiten die ‚Sprechenden‘.

„Nachdem sich die Gruppe mehrheitlich für das Vorlesen des Buches Regenbogenfisch entschieden hat, finden sich alle Kinder im Nebenraum in einem Halbkreis zusammen. Die Erzieherin beginnt vorzulesen. Sie beginnt mit Türkisch, wiederholt den Abschnitt dann auf Deutsch. Alle Kinder lauschen gespannt. Zwischendurch stellt sie den Kindern Fragen zur Geschichte. Neben der Erzieherin sitzt ein Junge im Schneidersitz. Als er die türkischen Worte hört, richtet er sich auf, sieht sie an, klopft auf meine Oberschenkel und fängt an zu grinsen. Er sagt zu ihr – sichtlich begeistert: ‚Ich verstehe das. Ich verstehe das! Ich kann Türkisch und ich kann Deutsch.‘ Sie liest das Buch zuende.“ (Teilnehmende Beobachtung)

Die pädagogischen Fachkräfte berichten von Kommunikationsbarrieren vor allem in Gesprächen mit Eltern: „… denn manchmal denke ich mir, wir sprechen zwei verschiedene Sprachen, obwohl wir uns anscheinend [sprachlich] verstehen in dem Augenblick, in dem wir miteinander sprechen.“ (Kita-Fachkraft)  

Der Index für Inklusion regt mit dem Indikator B 2.3 zur Anerkennung von Mehrsprachigkeit an: „Ressourcen zum Sprachenlernen stärken die Mehrsprachigkeit der Einzelnen und der ganzen Einrichtung“ und fragt u.a. „Zeigen Erwachsene, Kinder und Jugendliche Interesse an den Sprachen anderer und bemühen sie sich, einige Worte in diesen Sprachen zu lernen?“ (B 2.3 c)) Darüber hinaus findet Kommunikation auch über Zeichen, Gebärden, Mimik statt. Die Leiterin einer Kita erzählt von gebärdenunterstützender Kommunikation (GuK), die sie auch als Möglichkeit vielseitig zu verstehenden Sprechens erlebt.

Loris Malaguzzi, der Begründer der Reggio-Pädagogik, hat den berühmt gewordenen Satz formuliert: Das Kind hat 100 Sprachen:

Invece il cento c’è Il bambino è fatto di cento.
Il bambino ha cento lingue cento mani
cento pensieri cento modi di pensare di giocare e di parlare cento sempre cento modi di ascoltare di stupire di amare cento allegrie per cantare e capire cento mondi da scoprire
cento mondi da inventare cento mondi da sognare.
Il bambino ha cento lingue (e poi cento cento cento)
ma gliene rubano novantanove.
La scuola e la cultura gli separano la testa dal corpo.
Gli dicono:
di pensare senza mani
di fare senza testa
di ascoltare e
di non parlare
di capire senza allegrie di amare e di stupirsi solo a Pasqua e a Natale.
Gli dicono:

di scoprire il mondo che c`è già e di cento gliene rubano novantanove.
Gli dicono:
che il gioco e il lavoro
la realtà e la fantasia
la scienza e l’immaginazione
il cielo e la terra
la ragione e il sogno
sono cose che non stanno insieme.
Gli dicono insomma che il cento non c’è. Il bambino dice:
invece il cento c’è.

Und es gibt Hundert doch
Ein Kind ist aus hundert gemacht.
Ein Kind hat hundert Sprachen, hundert Hände, hundert Gedanken,
hundert Weisen zu denken, zu spielen, zu sprechen.
Hundert, immer hundert Weisen zu hören, zu staunen, zu lieben, hundert Freuden zu Singen und zu Verstehen.
Hundert Welten zu entdecken,
hundert Welten zu erfinden,
hundert Welten zu träumen.
Ein Kind hat hundert Sprachen, (und noch hundert, hundert, hundert),
aber neunundneunzig werden ihm geraubt.
Die Schule und die Kultur trennen ihm den Geist vom Körper.
Sie sagen ihm,
ohne Hände zu denken,
ohne Kopf zu handeln,
nur zu hören ohne zu sprechen,
ohne Freuden zu verstehen,
nur Ostern und Weihnachten zu staunen und zu lieben.
Sie sagen ihm, es soll die schon bestehende Welt entdecken. Und von hundert werden ihm neunundneunzig geraubt.
Sie sagen ihm, dass Spiel und Arbeit, Wirklichkeit und Fantasie,
Wissenschaft und Vorstellungskraft, Himmel und Erde, Vernunft und Träume
Dinge sind, die nicht zusammen passen.
Ihm wird also gesagt, dass es Hundert nicht gibt.
Das Kind aber sagt: „Und es gibt Hundert doch.“

Der Hinweis für die (inklusive) Konzeption: Vielfältige und einfache Verständigungswege.

4. Kinder hinterlassen Spuren. Familien bringen Geschichten mit.

Die Kita erfährt Erneuerung mit jedem neuen Kind. Kinder und Familien bringen Geschichten mit in die Kita und schaffen damit deren Kultur. Geschichte(n) zu hören, heißt auch, verschiedene und vereinzelte Wege zu verstehen: Eine Fachkraft berichtet, dass sie „ … in Dialog tritt und einfach versucht, sie [die Familien] auch in ihrer Lebenswelt zu verstehen und nicht sofort in eine Schublade [ zu stecken]. Oder ein Elternteil ist gerade neu in der Stadt angekommen, muss mit dem Bus die Mutter, weil der Vater einen Sprachkurs macht, ein Kind zur Schule bringen, dann das nächste Kind hier hin; diese Eltern leisten doch schon so viel an dem Morgen bis die hier hinkommen, und wenn wir dann noch das Gefühl vermitteln: ‚Boah, wieso sind Sie jetzt noch zu spät‘, gibt es ja noch eine Klatsche von uns und da kann das nicht klappen, die Zusammenarbeit.“ (Kita-Fachkraft) Sie erkennt die Bedingungen, in denen sich die Familie organisiert auf dem Weg in die Kita.

Wenn Kinder auf unterschiedlichen Wegen in eine Einrichtung kommen und in dieser eine Gemeinschaft bilden möchten, so kann das diese auffordern, ihre Gewohnheiten und Abläufe zu ändern. Es kann einladen, Geschichten zu erzählen, zu hören und gemeinsam  fortzuschreiben, Zurückliegendes mit der Gegenwart zu verbinden und für den Moment relevant zu machen. Persönliche Beiträge und einzelne Begebenheiten verbinden kleine Erzählungen mit der großen Geschichte. „Kinder sehen sich selbst immer als Teil einer Geschichte“ schreibt Paley (1992: 59), die das Aufgreifen und Wiedergeben von Geschichten als Kern der pädagogischen Arbeit versteht.

Achille Mbembe, ein großer Denker der postkolonialen Philosophie aus Südafrika sagt, es sei die aktuelle Aufgabe der Weltgesellschaft, die Erde für alle, die dort leben, bewohnbar zu gestalten, als einen Platz für alle und alles. Was er als Aufgabe der Weltbevölkerung bezeichnet, spiegelt sich in der kleinen Gruppe: Die Frage, wie wir miteinander leben wollen, läuft mit in der Gestaltung von Tages- und Jahresabläufen und im Anliegen, eine Umgebung zu schaffen, „in der Kinder uns erzählen, was sie denken“ (s.o.). Dieses Anliegen richtet sich wie durch ein Brennglas auf die Kita(gruppe). Als Spiegelung einer globalen Aufgabe in der lokalen Konkretion wird hier ein hehrer Anspruch an die pädagogische Professionalität gerichtet. Er kann aber auch – schlicht formuliert und in aller Bescheidenheit betrachtet – der Pädagogik ein verlorenes Terrain zurückerobern (vgl. Krönig 2018): die Freude, das Zusammensein mit den Kindern zu gestalten.

Der Hinweis für die (inklusive) Konzeption: Zurück zur Pädagogik.

5. Kinder haben schulfrei. Sie wachsen auf Spielwiesen und in Freiräumen.

Die Erkenntnis „Bildung beginnt mit der Geburt“ wertet die frühe Kindheit nicht nur auf, sondern strapaziert sie auch als nicht zu versäumende Entwicklungsphase, in der pädagogisches Handeln nicht allein Wohl und Gedeihen der pädagogisch Behandelten, sondern vielmehr deren ökonomischen Nutzen und lebenslange Verwertbarkeit fokussiert (vgl. Ahlheim 2015). Es gilt, am Startpunkt der (institutionalisierten) Bildungsbiografie Leistungsentwicklungen, Neigungen und Förderbedarfe zu unterstützen, so die Implikation. Interventionen und präventive Begleitung werden von Kitas ebenso erwartet wie die angemessene Vorbereitung auf eine wünschenswerte Schullaufbahn.

„In den ersten Lebensjahren“, so heißt es im aktuellen Bildungsbericht, „wird eine Vielzahl an kognitiven Kompetenzen erworben, die für das Erreichen der Schulfähigkeit von Relevanz sind und im Zuge der Einschulung geprüft werden“. Die Aussicht auf Schule scheint zu verhindern, dass Kinder und Erzieher*innen ‚einfach nur‘ einen schönen Tag in der Kita verleben können. Von einem schulfähigen Kind wird ein bestimmter Entwicklungszustand erwartet. Diese Erwartung wird auch an die Familien vermittelt:

„… wie gesagt, zu dem Zeitpunkt, als wir sagten, die Schule kommt ins Spiel, da wurden sie [die Eltern] wach und haben dann auch wirklich die Frühförderstelle aufgesucht […] und die Logopädie in Anspruch genommen.“ (Kita-Fachkraft)

Durch den Bildungsauftrag sind Kitas nicht nur zur angemessenen Vorbereitung auf Schule gerufen, sondern sie entwickeln sich selber zu vorweggenommenen Schulen, deren Erziehungsauftrag zudem das familiäre Umfeld ausgleichen und deren Betreuungsauftrag auch noch Spaß, Sport und Spiel bieten soll (vgl. Allmendinger 2017).

An dieser Stelle möchten wir zu einer selbstbewussten pädagogischen Expertise in ihrem ursprünglichen Sinne ermutigen: Was ist der pädagogische Beitrag dazu, dass es den Kindern gut geht – heute, in diesem Augenblick, und vielleicht morgen? Das kann bedeuten, die einst wild gewachsenen Felder frühkindlicher Entdeckungsreisen bestmöglich zu erhalten, nicht zu beschneiden, nur mit größter Zurückhaltung zu institutionalisieren. Kraft und Alleinstellungsmerkmal der Kindheitspädagogik liegen in deren pädagogischem (Selbst)Verständnis und der (noch weitgehenden) Unabhängigkeit vom formalen Bildungssystem, die sie weder zu Platzierungen und Zuweisungen von Kindern verpflichtet, noch an Bildungspläne und Entwicklungsvorstellungen zwingend bindet. Es ist ihr zu wünschen, dass sie – wohl wissend um Übergriffe durch Curricula, Schulbuchverlage, Erziehungsratgeber, Audits – sich erlaubt, auf Spielwiesen (sich) selbst gestalten zu dürfen und Kindern Freiräume zu erhalten.

Der Hinweis für die (inklusive) Konzeption: Am Anfang steht das Kind.

Literaturhinweise:

Ahlheim, Klaus (2015): Theodor Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ – Rezeption und Aktualität. In: Ahlheim, K./Heyl, M. (Hrsg.): Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute. Hannover: Offizin-Verlag

Allmendinger, Jutta ( 2012): Schulaufgaben. Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden. München: Pantheon

Dannenbeck, Clemens/ Dorrance, Carmen/ Platte, Andrea/ Tiedeken, Peter (2016). Inklusion und Kritik. Anstiftungen zu einer gesellschaftstheoretischen Fundierung des Inklusionsdiskurses. In: Müller, Stefan/ Mende, Janne (Hrsg.), Differenz und Identität. Konstellationen der Kritik (S. 202-220). Weinheim & Basel: Beltz Juventa

Iglesias, Mercedes Pascual (2017): Vom Weggehen und Ankommen. Köln: AWO

Krönig, Franz (2016): Inklusion aus systemtheoretischer Perspektive. Inklusion als originärer pädagogischer Grundbegriff einer autonomiegewinnenden Selbstbeschreibung. In: Ottersbach, Markus/Platte, Andrea/Rosen, Lisa (Hrsg.) (2016): Soziale Ungleichheiten als Herausforderung für inklusive Bildung. (S. 63-78)

Mai, Judith (2017): Ein philosophischer  Zugang zur Konstituierung eines Menschenbildes für die Pädagogik. In: Platte, Andrea/ Amirpur Donja ((2017) (Hrsg.): Handbuch Inklusive Kindheiten. Opladen & Toronto. UTB 

Paley, Vivian Gussin (1992): Jason. Der Junge, der ein Hubschrauber sein wollte. München: Knaur

Platte, Andrea & Krönig, Franz (2017): Inklusive Momente. Unwahrscheinlichen Bildungsprozessen auf der Spur. Weinheim: Beltz

UN-Sozialpakt/ICECSR. Download unter  https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsschutz/deutschland-im-menschenrechtsschutzsystem/vereinte-nationen/vereinte-nationen-menschenrechtsabkommen/sozialpakt-icescr

UNESCO & Ministery of Education and Science Spain (1994): The Salamanca Statement on Principles, Policy and Practise in Special Needs Education. Paris

Rilke, Rainer Maria (1903) Briefe an einen jungen Dichter Download unter http://www.rilke.de/briefe/170203.htm

Das Dokument können Sie hier herunterladen: ErMUTigungen für inklusive KinderTAGeseinrichtungen