Was ist Kinderliteratur? 3 Perspektiven auf »Die kleine Raupe Nimmersatt«
Im Seminar haben sich Studierende zwei Semester lang mit verschiedenen Perspektiven auf Kinderliteratur und Rezensionen über sie befasst. Dabei wurde schnell klar, dass es mindestens drei Positionen gibt, denen jeweils unterschiedliche Werte zugrunde liegen und die mit den Fragen, was Literatur überhaupt sei und wozu sie gut wäre, zusammenhängen. Im Ergebnis ist das, was „gute“ Literatur ist, auffällig unterschiedlich. Wir möchten Sie und Euch einladen, diese drei Positionen anhand des Kinderbuch-Bestsellers „Die kleine Raupe Nimmersatt“ nachzuvollziehen.
Drei kontrastive Perspektiven im Vergleich
PÄDAGOGISCH
Kinderliteratur ist im Hinblick auf ihren pädagogischen Wert, ihre Kindgemäßheit etc. zu beurteilen.
Bsp.: In gesamter pädagogischer Betrachtung ist die Raupe Nimmersatt eine lehreiche und anregende Lektüre für Eltern und Kinder und bietet eine spannende Basis für die Erweiterung des Wortschatzes und des Bewusstseins einer alltagsintegrierten, ausgewogenen Ernährung.
KÜNSTLERISCH
Kinderliteratur als Kunstform, die nur nach eigenen Maßgaben produziert, rezipiert und beurteilt werden darf.
Bsp.: Auch wenn Die kleine Raupe Nimmersatt begeistert gelesen, rezensiert und immer noch verkauft wird, ist sie als Kunstwerk gescheitert: auf Kosten ihrer künstlerischen Qualität schränkt sie sich im Hinblick auf pädagogische Verwendungsweisen selbst ein. Da sich die Auffälligkeit ihrer Gestaltung lediglich auf Illustrationen, nicht aber auf ihre sprachliche Form bezieht, stellt sie einen unbearbeitbaren Bruch selbst her und eröffnet lediglich die Möglichkeit, die Illustrationen schön, vielleicht interessant zu finden und sich von der Geschichte unterhalten, belehren oder sich von ihr berieseln zu lassen. Überspitzt formuliert verweigert sie sich somit selbst einer künstlerischen Rezeption.
GESELLSCHAFTSKRITISCH
Kinderliteratur reproduziert entweder herrschende Zustände oder verhält sich kritisch dazu und trägt zu sozialer Gerechtigkeit bei.
Bsp.: Die Raupe Nimmersatt lässt wohl tiefe Sehnsüchte nach Träumen einer vergangenen Bürgerlichkeit aufleben: In der Jugend konsumieren, sich »ausleben«, dann verzichten und schließlich mit einem schönen Leben belohnt werden: in mehrfacher Weise aufsteigen! Diesem Traum unterliegt die dargestellte christliche Erlösungsgeschichte, die protestantische Ethik und der kapitalistische Wettbewerb zugleich.
Die pädagogische Perspektive
Die Raupe Nimmersatt ist ein Buch welches unterstützend zur Sozialisation der Kleinkinder beitragen kann, indem sie auf die Bildungsstrukturen in unserer Gesellschaft vorbereitet werden.
Durch das Begleiten der kleinen Raupe auf ihrem Weg lernen die Kinder die Wochentage und das Zählen von eins bis sieben spielerisch im Zusammenhang mit dem Essverhalten der kleinen Raupe kennen. In kindgerechter Form wird vermittelt, welche Auswirkungen gesunde als auch ungesunde Ernährung auf das Wohlbefinden der Raupe hat. Zudem wird den Kindern im Bereich des Naturwissenschaftlichen der Prozess der Metamorphose nähergebracht, wie die Raupe sich in einen Schmetterling verwandelt.
Die künstlerische Perspektive
Wir werden zu zeigen versuchen, dass der Großteil der Rezensionen sich nicht ohne Grund mit möglichen pädagogischen Verwertungsweisen des Buches befassen – das Buch zeigt sich selbst weniger als Kunstgegenstand, sondern vielmehr als pädagogischen Gegenstand an; und zwar auf Kosten seiner ästhetischen Qualität.
Die gesellschaftskritische Perspektive
Für was steht also die diese Geschichte? Ein absurdes, unerklärliches Einzelschicksal? Ganz im Gegenteil für eine Entwicklung, die auf alle, d.h. auch mich zukommt – etwa durch das Verständnis des Larvenstadiums als Metapher für Kindheit (Phase der Konsumption, deren Wert sich erst im Erwachsenenalter zeigt)? Oder vielmehr nur um einen distanzierten Einblick in die natürlichen Prozesse von Schmetterlingslarven aus einer quasi-naturwissenschaftlichen Sicht?