Rezension zu Eric Carle (2010): Die kleine Raupe Nimmersatt. 13. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co KG.

Das Bilderbuch des US-Kinderbuchautors und -illustrators Eric Carle Die kleine Raupe Nimmersatt (im Original The Very Hungry Caterpillar) erschien erstmals im Jahr 1969 und gehört auch in heutiger Zeit mit mehr als 50 Millionen verkauften Exemplaren und Übersetzungen in über 60 Sprachen zu den international bekanntesten Kinderbüchern. [1] Während der Großteil der Rezensionen zu Carles Durchbruchswerk sich mit seiner pädagogischen Werthaftigkeit beschäftigen [2], will diese Rezension mit einer anderen Perspektive auf das Buch blicken: Die kleine Raupe Nimmersatt soll als Kunstwerk rezensiert werden. Um den Unterschied zu verstehen, sind einige Vorbemerkungen nötig. Grundlegend dafür ist die Annahme, dass alle literarischen Werke – auch die, die Kinder adressieren – unter ästhetischen Gesichtspunkten gelesen, reflektiert und bewertet werden können (und sollten), was nicht zuletzt damit begründet wird, dass auch ästhetische und künstlerische Verstehensweisen von der Welt und dem eigenen Verhältnis zu ihr einen eigenständigen Wert in der Gesellschaft haben und die Ermöglichung von Zugängen benötigen, was wiederum von bildungstheoretischer bis hin zu didaktischer Relevanz sein kann. [3]  Hierbei nimmt das, was „ästhetische Erfahrung“ genannt wird, eine zentrale Rolle ein, was zum einen mit dem „Stoff“, zum anderen mit einer besonderen Distanznahme zum Alltag zusammenhängt. [4] Dies heißt im Umkehrschluss nicht unbedingt, dass ein möglicher Gehalt für pädagogische Les- oder Gebrauchsarten durch das Ausbleiben eines künstlerischen Gelingens relativiert werden muss. Im Folgenden soll gerade der Versuch gemacht werden, sich zunächst jeglicher pädagogischen Lesart zu enthalten und stattdessen zu fragen: wie lässt sich Die kleine Raupe Nimmersatt als Kunstwerk beschreiben? Und wie lässt sie sich als Kunstwerk bewerten? Um die These vorwegzunehmen: Wir werden zu zeigen versuchen, dass der Großteil der Rezensionen sich nicht ohne Grund mit möglichen pädagogischen Verwertungsweisen des Buches befassen – das Buch zeigt sich selbst weniger als Kunstgegenstand, sondern vielmehr als pädagogischen Gegenstand an; und zwar auf Kosten seiner ästhetischen Qualität. Die Kriterien, auf die mithilfe kunsttheoretischer Überlegungen zurückgegriffen wird, sind ebenso wie der Gegenstand der künstlerischen Kritik in der Sphäre der Kunst zu verorten [5]. Problematisch und selbst in kunstinternen Reflexionen wenig praktiziert bleibt die Findung eines Vokabulars, das versucht, Form und Inhalt nicht voneinander zu trennen und – traditionell gesprochen – deshalb das Wesen eines Kunstwerks nicht über seinen Inhalt zu bestimmen. [6]

Wir versuchen zunächst, Formbrüche in der Text- und Bildebene, die wortwörtlich in das Auge springen, zu beschreiben. Das Genre des Bilderbuchs im Blick behaltend soll das Verhältnis von Bild und Text mit Rückgriff auf ästhetische Kriterien bewertet werden.

Der erste Bruch, der in unserer Hinsicht erwähnenswert ist, könnte als ein Stilbruch bezeichnet werden. Auf den ersten zusammengehörigen Seiten klingt eine spezifische, fast romantische Atmosphäre an. „Nachts im Mondschein“ (S. 8) liegt ein Ei auf einem Blatt. Das Mondlicht scheint gerade so viel zu erhellen, dass Umrisse erkennbar sind, die durch ihre Unbestimmtheit anonym bleiben und dennoch mehr erahnen lassen könnten. Direkt auf den nächsten Seiten wird diese Atmosphäre kontrastiert durch die Angabe eines bestimmten Wochentags. Eine Raupe beginnt „an einem schönen Sonntagmorgen“ (S. 10) zu schlüpfen. Das Einzige, das wir bis dahin über das Innenleben der noch im Unspezifischen zu verortenden – im ganzen Buch einzig lebenden – Protagonistin erfahren, ist, dass sie hungrig ist. Vom Innenleben kann hier nur in rudimentärer Hinsicht gesprochen werden: das Hungrigsein erscheint eher als eine Eigenschaft eines Körpers, an dem keine Individualität beobachtet werden kann. Das allein ist nicht unbedingt problematisch – es könnte sein, dass das Fehlen von Individualisierung ein (wenn auch veraltetes) Stilmittel ist. Im Zusammenhang mit dem schönen Sonntagmorgen verliert sich die Wirkung. Welchen Körper interessiert, dass es Sonntag, morgens oder schön ist? Warum wird dem Leser das erzählt? Auch das Schöne des Sonntagmorgens bleibt unspezifisch und unterscheidet sich nicht von anderen Morgenen. Die unabdingbare Konsequenz scheint zu sein, dass die Raupe sich auf den Weg macht, um Futter zu suchen. In den nächsten Wochentagen, die jegliche Beschreibungen verloren haben, frisst die Raupe sich durch Lebensmittel in wachsender Anzahl, was ihren Hunger nicht zu stillen scheint. Hier wird in unserer Ansicht das erste Mal deutlich, dass diese Form einen kunstäußerlichen und im Kontext des Genres Kinderbilderbuch pädagogischen Zweck haben muss: es scheint, als sollen die Adressat:innen Spaß an dieser Form von Wiederholungen haben. Oder aber der Sinn in der Erwähnung der Wochentage und der wachsenden Anzahl der Lebensmittel liegt darin, dass sie als zu lernendes Material bereitgestellt werden sollen. Dieser Zweck drängt sich so deutlich auf, da er in künstlerischen Perspektiven nicht verständlich wird. Dennoch scheint sich die Frage aufzudrängen, wie weit das Ganze noch gehen mag. Der Höhepunkt scheint die Fresseskapade der Raupe an einem Samstag zu sein, deren Ergebnis erneut eine rein körperliche Regung und naheliegende Konsequenz ist: Sie frisst sich durch Unmengen von verarbeiteten Lebensmitteln, die in einer schlagartigen Abfolge aufgelistet werden und hat Bauchschmerzen. Hier fällt die unspezifische Sprache erneut als unkünstlerisch auf. [7] [8] Mit der Frage, warum es bedeutsam für den Leser sein soll, dass es der Raupe besser geht, nachdem sie sich am nächsten Tag lediglich durch ein Blatt frisst, liegt die Vermutung nahe, dass eine Art Lebensweisheit für junge Leser:innen dargestellt werden soll. Die nächste Veränderung der Raupe ist wieder rein körperlicher Art: Sie ist dick und groß geworden und wird gefolgt von einem weiteren Stilbruch. Mit einer fast sachbuchartigen Konkretheit, die sich jedoch immer noch jeglicher Individualisierung verweigert, wird den Leser:innen erklärt, wie das enge Haus einer Raupe heißt, was, wenn nicht auf pädagogische, so aber doch wenigstens auf rudimentär-naturwissenschaftliche Zwecke verweist, begleitet durch die Form des „man nennt dies so-und-so“ (vgl. S. 27). Am Ende „zwängt“ (S. 27) sich der Schmetterling, der als wunderschön beschrieben wird aus seinem Kokon, was die vorangegangene distanzierende Sachlichkeit wiederum konterkariert.

Auch in der Bildsprache bemerken wir ähnliche Brüche, die in der Betrachtung möglicher Bild-Text-Interdependenzen parallel verlaufen:

Zu Beginn entsteht eine Atmosphäre, auch dadurch, dass das Bild durch die Farben und das Ausfüllen des Blattes (kein Weiß) eine Art von Tiefe bekommt, danach wendet sich der Stil hin zu einzelnen Abbildungen, die zwar durch eine besondere Art gezeichnet sind, aber in großen, nicht mehr bearbeiteten (z.B. durch Wiederholung am Ende, Zwischendurch, etc.) Kontrast zu den ersten Seiten stehen. Die zuvor erwähnten wiederholten Abfolgen und Steigerungen (Wochentage, Anzahl des Obstes) sind auch in den zugehörigen Bildern zu finden.

Dennoch scheint es etwas zu geben, das Leser:innen seit Jahrzehnten begeistert und das das Buch immer noch im Meer der Bilderbücher aufblitzen lässt.

Zum einen scheint der Stil der Illustrationen – etwa eine sich treu bleibende Collagetechnik, in der Seidenpapier und Acrylfarbe einen hervorgehobenen Platz haben oder auch die satten Farben und Strukturen – besonders ausdrucksstark zu bleiben. Zudem mutet das Buch den Leser:innen in seiner Gestaltung in verschiedenen Hinsichten künstlerische Abstraktion zu. [9]  

Wir vermuten zum anderen, dass die immer noch anhaltende große Rezeption des Buches auch mit Qualitäten zusammenhängen könnte, die vor allem nicht künstlerischer Art sind, sondern sich auf hinter der Gestaltung liegende Moralen der Geschichte beziehen, beispielsweise das Großwerden, das richtige und falsche Essen, etc., die durch Interpretationen der Handlung „herausgefiltert“ werden könnten.

Auch wenn Die kleine Raupe Nimmersatt begeistert gelesen, rezensiert und immer noch verkauft wird, ist sie als Kunstwerk gescheitert: auf Kosten ihrer künstlerischen Qualität schränkt sie sich im Hinblick auf pädagogische Verwendungsweisen selbst ein. Da sich die Auffälligkeit ihrer Gestaltung lediglich auf Illustrationen, nicht aber auf ihre sprachliche Form bezieht, stellt sie einen unbearbeitbaren Bruch selbst her und eröffnet höchstens die Möglichkeit, die Illustrationen schön, vielleicht interessant zu finden und sich von der Geschichte unterhalten, belehren oder sich von ihr berieseln zu lassen. Überspitzt formuliert verweigert sie sich somit selbst einer künstlerischen Rezeption.

Fußnoten:

[1] https://www.zeit.de/2019/13/die-kleine-raupe-nimmersatt-eric-carle-kinderbuch-jubilaeum?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com

[2] Siehe, um nur wenige Beispiele zu nennen: https://www.wir-bieten-vielfalt-einen-ort.de/2019/07/04/rezension-zu-die-kleine-raupe-nimmersatt-von-eric-carle/, http://www.bookinist.de/bookinist/content/text/xolds/hase/@caklein.htm und https://www.deutschlandfunkkultur.de/kinderbuch-die-kleine-raupe-nimmersatt-erst-bauchschmerzen.932.de.html?dram:article_id=444060

[3] Zur weiteren Ausführung dieser These siehe auch Wienbruch (2000) und Krönig (2008).

[4] Weshalb es sogar die Position gibt, dass Kinder im strengen Sinne nicht fähig dazu sind (vgl. Parmentier 2004).

[5] Nicht dazu gehören würden –  wenn auch in der Rezensionspraxis meistens unbeachtet – Kriterien wie emotionale Ergriffenheit, Lebenshilfe und Erbauung, die nicht konsequent kunstspezifisch sind, wohl aber Kriterien wie Vollkommenheit, Stimmigkeit, Expressivität, Welthaltigkeit, Interessantheit und Originalität oder auch Komplexität, Ambiguität und Grenzüberschreitung hin zum Offenen und Neuen. Vergleiche hierzu wie auch zu weiteren Kriterien und ihrer Angemessenheit an die Kunst der Moderne und Spätmoderne die Ausführungen von Gelfert (2006).

[6] Wie Susan Sontag (2003) in unserer Sicht treffend feststellt und appelliert: „Es ist nicht unsere Aufgabe, ein Höchstmaß an Inhalt in einem Kunstwerk zu entdecken. Noch weniger ist es unsere Aufgabe, mehr Inhalt aus dem Werk herauszupressen, als darin enthalten ist. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den Inhalt zurückzustellen, damit wir überhaupt etwas sehen können. Das Ziel aller Kommentierung von Kunst sollte heute darin liegen, die Kunst – und analog dazu unsere eigene Erfahrung – für uns wirklicher zu machen statt weniger wirklich. Die Funktion der Interpretation [criticism] sollte darin bestehen aufzuzeigen, weshalb unsere Erfahrung ist, was sie ist, ja selbst, dass sie ist, was sie ist; aber sie sollte nicht darin bestehen, unsere Erfahrung zu deuten.“  (S. 189).

[7] So frisst sie sich durch „ein Stück Wurst“ (S. 22) und „ein Würstchen“ (S. 23).

[8] Auch in englischer Originalfassung ist The very hungry Caterpillar in unserer Sicht literarisch eher unsauber und inkonsequent verfasst worden, wobei das in der vorherigen Fußnote genannte Beispiel der Übersetzung geschuldet sein wird.

[9] Der unbestimmbare Ausdruck der Raupe kann so bspw. auch als Tendenz zur Offenheit bemerkt werden.

Literatur:

Carle, Eric (2010): Die kleine Raupe Nimmersatt. 13. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co KG.

Gelfert (2006): Kriterien der ästhetischen Wertung. In: Ders. (Hrsg.): Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet. München: Beck (S. 53 – 76).

Krönig, Franz Kasper (2008): Kunst als Faktizitätsbewältigung. In: Musik & Ästhetik 45 (12) (S. 68 – 75).

Parmentier, Michael (2004): Proästhetik oder der Mangel an Ironie. Eine etwas umständliche Erläuterung der These, dass Kinder zu ästhetischen Erfahrungen im strengen Sinne nicht fähig sind. In: Mattenklott, Gundel/Rora, Constanze (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung. Weinheim und München: Juventa (S. 99 – 109).

Sontag, Susan (2003): Gegen Interpretation. In: Kunst und Antikunst. Aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien. München: Carl Hanser Verlag (S. 176 – 189).

Wienbruch, Ulrich (2000): Zur Funktion des literarischen Kunstwerkes. In: Ders. (Hrsg.): Das konkrete Ich. Würzburg Verlag Königshausen & Neumann GmbH (S. 30 – 37).