von Judith Chang (Gastbeitrag)

Der US-amerikanischen Regisseur Alexandre Rockwell hat bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad in der Welt der Independent-Filme erreicht. Nun ist ihm mit „Sweet Thing“ ein kleines Meisterwerk gelungen. Der Film wurde auf der Berlinale 2020 vorgestellt.

Billie und Nico, ein unzertrennliches Geschwisterpaar, wachsen bei ihrem alkoholkranken Vater Adam auf. Das Leben Zuhause ist geprägt von der Unberechenbarkeit seiner Alkoholsucht. In einem Moment werden sie mit kleinen Geschenken überhäuft, im nächsten zerrt Adam seine Tochter Billie ins Zimmer, um ihr die schönen schwarzen Locken zu kürzen, die ihn so schmerzhaft an seine ehemalige Frau erinnern. Die Mutter Eve macht das zerrüttete Familienbild komplett. Sie hat die drei vor einiger Zeit für einen anderen Mann verlassen und ist für ihre Kinder, obwohl physisch anwesend, nicht mehr erreichbar. Als Adam nach einem seiner vielen Alkoholeklats in eine Entzugsklinik muss, werden die jungen Geschwister bei der Mutter abgestellt, um ihre Sommerferien mitsamt dem neuen Liebhaber Beaux an einem Strand im amerikanischen Nirgendwo zu verbringen. Die heißen Sommertage sind bestimmt von plötzlichen Wutanfällen und Machtdemonstrationen Beauxs sowie spontanen Herzensbekundungen, in denen die beiden von ihm in den Himmel gelobt werden. So gesehen ist eigentlich alles wie immer. Nach einem höchst verstörenden Vorfall zwischen Beaux und Nico beschließen die beiden Geschwister jedoch, gemeinsam mit dem ebenfalls vernachlässigtem Nachbarskind Malik kurzerhand Reißaus zu nehmen. Ein märchenhaftes Abenteuer beginnt.

Ein alkoholkranker Vater und eine vernachlässigende Mutter bilden den Rahmen für die Kindheit der beiden Geschwister. Dennoch ist dem Publikum gleich klar, dass Billie und ihr kleiner Bruder Nico keinesfalls nur zu bemitleiden sind. Tatsächlich ist ihr Reichtum an Energie, Fantasie und Tatendrang fast schon beneidenswert. Obwohl das Sozialdrama nicht die Augen vor Suchterkrankung, körperlicher Gewalt und sexuellem Missbrauch verschließt, vergisst Rockwell nie, die Perspektive und unglaubliche Resilienz der Kinder darzustellen. Billie, Nico und Malik, die trotz aller Widrigkeiten – zumindest für die Zeit ihrer Flucht – ihre Geschichten selber schreiben.

Dass der Film abwechselnd monochrom und bunt ausgestrahlt wird, scheint nur allzu passend. Kinder in ärmlichen Verhältnissen: monochrom. Innovative Streiche, um Geld zusammenzugaunern: bunt. Ein alkoholkranker Vater: monochrom. Billies sanfte Singstimme: bunt.

Ganz so plakativ wird der Farbwechsel natürlich nicht genutzt. Die fantastisch leuchtenden Farbszenen kommen vor allem dann ins Spiel, wenn die Sehnsucht nach vergangener oder auch nie da gewesener Geborgenheit aufkommt. Begleitet werden diese kaleidoskopischen Fragmente von einer träumerischen Vision von Billie Holiday, nach der die junge Protagonistin benannt ist. Es scheint fast so, als würde sie schützend ihre Hand über die drei Kinder halten.

Interessant ist, dass die fiktive Familie auf der Leinwand fast komplett von den sehr realen Mitgliedern Rockwells eigener Familie dargestellt wird. Seine beiden Kinder Lana und Nico Rockwell überzeugen durch unglaublich authentische und lebendige Schauspielkunst, genau wie seine Frau Karyn Parsons, die die Rolle der Mutter spielt.

Leider ist ein solches Familiendrama in der echten Welt häufig bittere Realität. Obwohl die Machart des Films mit den körnigen Lo-fi Farben an die Retroversion der USA erinnert, lässt die Handlung keinen Zweifel daran, dass sich ebensolche kindungerechten Zustände genau in diesem Moment hinter vielen amerikanischen Haustüren vorfinden lassen.

„Sweet Thing“ zeichnet dennoch kein bitteres, sondern ein bittersüßes Portrait, das weder eine rein defizitäre noch eine rein verharmlosende Betrachtung zulässt. Es ist wie so oft im Leben: nicht einfach, sondern komplex.

Eine wärmste Empfehlung nicht nur an alle Kinder, sondern auch an alle, die mal Kinder waren.

 

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(Abruf 19.06.2020)