Gekürzte und abgeänderte Fassung aus: Masurek, Martina (2021): Situative Beziehungsgestaltung als Aufgabe. Pädagogische Professionalität zwischen Theorie und Praxis. In: Platte, Andrea: Die Diagnose Autismus im Spiegel inklusiver Widersprüche. Weinheim Basel Beltz Juventa.

Vom Wunsch nichts falsch zu machen

Teilnehmende von (heil-) pädagogischen Weiterbildungen suchen häufig nach anwendbarem Wissen, das sie in ihrem Berufsalltag für den Umgang mit ihrer Klientel – hier Kindern – nutzen können (Als Erwachsenenbildnerin mache ich diese Erfahrung immer wieder selbst mit Teilnehmenden von Fort- und Weiterbildungen.). Dies zeigt sich zum Beispiel in dem Wunsch, die ‚Besonderheiten‘ von Menschen mit ‚Diagnosen‘ genauestens zu kennen, schon im Vorhinein zu wissen, welche Bedürfnisse und Schwierigkeiten zu erwarten sind und mit welchen professionellen Reaktionen dem zu begegnen sei. Dieses Bedürfnis verlangt nach dem Transfer theoretischen Wissens in konkrete Alltagssituationen und ist nachvollziehbar. Gleichzeitig scheint es, als ginge es um die Übersetzung naturwissenschaftlicher Gesetze in technische Verfahren (vgl. Dewe et al. 2011, S. 34).

Eine ‚Diagnose‘ (Der Diagnosebegriff wird hier in Anlehnung an Ritscher (2004) in Anführungszeichen gesetzt.) wird in diesem Zusammenhang zum Wissen über Menschen, deren Verhalten durch diese erklärbar und gleichzeitig darauf reduziert wird – schlimmstenfalls „werden Krankheiten und Störungen behandelt, aber keine Menschen in ihren relevanten sozialen Bezügen“ (Levold, zit. nach Bitten 2017, S. 16). Dahinter lässt sich einerseits der Wunsch, zwischenmenschliche Kommunikation schon im Vorhinein zu planen, und andererseits die Angst, etwas ‚falsch‘ zu machen, vermuten. „Eine offizielle Diagnose ‚hilft‘ gegen diese Unsicherheiten, da sie den Wunsch nach Erklärung bedient und Gewissheit und Hoffnung auf ‚Heilung‘ bietet“ (Melles 2021).

Als könnten Diagnosen Fachkräften ein Wissen über einen anderen Menschen eröffnen, das mit dem persönlichen und beruflichen Werdegang nichts zu tun habe (vgl. ebd. S. 51). Vielmehr benötigen pädagogische Fachkräfte „einerseits wissenschaftliche Theorie als Hintergrundwissen und andererseits eine Offenheit für die Situation, um angemessen reagieren und handeln zu können“ (Wolf 2019, S. 166).

Die Rollen von Bezugspersonen

Im Folgenden verwende ich den Begriff der situativen Beziehungsgestaltung als Bestandteil pädagogischer Professionalität. Situativ meint die konkrete pädagogische Situation zwischen dem Kind und der pädagogischen Fachkraft. Diese Situation wird demnach von beiden gemeinsam gestaltet und erlebt, wobei die Verantwortung immer auf Seiten der Erwachsenen liegt. Zudem sollten pädagogisch Tätige ihre Rolle als Bezugsperson reflektieren und ihrem Gegenüber unvoreingenommen begegnen.

Es bleibt zu diskutieren, ob die Verwendung von Diagnosebegriffen nicht letzten Endes immer auch auf die Notwendigkeit von Interventionen, wie beispielsweise konkrete Förderbedarfe, hinweist und ob sie im Rahmen einer situativen Beziehungsgestaltung überhaupt noch erforderlich und möglich sind.

Situative Beziehungsgestaltung fordert vielmehr von pädagogisch Tätigen, den Zusammenhang von ihrer Rolle als Bezugsperson mit anderen Rollen zu (er)kennen, um in der konkreten Situation auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können:

  1. Als Privatpersonen bringen sie eigene biographische Erfahrungen und Erlebnisse mit in ihren Berufsalltag,
  2. als Arbeitnehmende sind sie von Strukturen und Entscheidungen der Einrichtung abhängig,
  3. als Bürger_innen sind sie immer auch gesellschaftlich eingebunden.

Was unter einer ‚Diagnose‘ verstanden wird, ist daher immer auch abhängig davon, wer wie, wann und wo darüber spricht (vgl. Melles und Hirsch 2021). Pädagogische Fachkräfte treten in Beziehung mit ihrem Gegenüber. Je mehr sie ihr Handeln den o. g. Punkten zuordnen und Machtebenen und Eingebundenheiten erkennen können, desto besser können sie sich zu diesen verhalten – wenn nötig distanzieren – und auf die konkrete Situation, d. h. die Bedürfnisse der Kinder einlassen (vgl. Masurek 2021). Gleichzeitig sind sie in der Lage, sich als individuelle Persönlichkeit in die jeweilige Situation professionell einzubringen und eine gewisse Routine in ihrer Arbeitsweise zu entwickeln. Diese kann durch Reflexion immer wieder durchbrochen und hinterfragt werden.

Situative Beziehungsgestaltung als Haltung

Professionalität meint hier jedoch nicht nur das Zusammenspiel von Selbstreflexion, pädagogischem Fachwissen und Kompetenzen. Es bedarf zudem einer persönlichen Einstellung, die der Gestaltung jeder situativen Beziehungsgestaltung zugrunde liegt und ihr gewissermaßen vorausgeht (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang wird nicht selten der Begriff der Haltung verwendet: Haltung beginnt nicht erst im Moment der Handlung, sondern zeigt sich auch im Denken und Sprechen über Menschen und Situationen – privat und beruflich – und sie fängt bei der individuellen Selbstreflexion an.

Im Folgenden wird das Haltungsverständnis von Barthelmess (2016, S. 10) auf pädagogische Settings übertragen und sowohl als Bestandteil als auch Voraussetzung situativer Beziehungsgestaltung verstanden. Dabei lassen sich vier Formen von Haltung unterscheiden:

  • Pädagogische Fachkräfte begegnen den Themen und Bedürfnissen der Kinder mit Neugier (Haltung des Nichtwissens und Nichtverstehens)
  • Pädagogische Fachkräfte sind Teil der gestaltetenden Situationen (Haltung des Eingebundenseins)
  • Pädagogische Fachkräfte vertrauen in die Eigenverantwortlichkeit von Kindern (Haltung des Vertrauens). Jede Form pädagogischer Begleitung kann somit lediglich die Steigerung der Selbstverantwortung zum Ziel haben.

Nur Mut!

Vor dem Hintergrund des Erziehungsauftrages, den pädagogisch Tätige gegenüber Kindern haben, stellen diese Haltungen möglicherweise eine Herausforderung dar oder erscheinen gar als nicht realisierbar: Sie resultieren daraus, die Beurteilung von Verhaltensweisen und Eigenheiten den Kindern zu überlassen. An dieser Stelle wird deutlich, dass der Verzicht auf eine vermeintliche Sicherheit durch theoretisches Wissen den Mut erfordert, sich auf die situative Gestaltung einer Beziehung einzulassen und dabei auf eine (naturwissenschaftlich-technische) Beurteilung über das Kind zu verzichten.

Denn nicht selten werden die Beziehungen im pädagogischen Kontext ungleich, wenn beispielsweise ‚Diagnosen‘ zu der Annahme verleiten, Kinder könnten (noch) nicht wissen, was ihnen guttue, was sie wollten und lernen müssten. Fachkräfte erheben dann zuweilen den Anspruch, genau dies zu wissen. Das zeigt sich beispielsweise bei der Arbeit mit Kindern in der Verwendung des Förderbegriffs, der auf ein zu überwindendes Defizit hinweist – ‚Diagnosen‘ dienen dann als Grundlage zur Formulierung des jeweiligen Förderbedarfs (vgl. Masurek 2021). Im Sinne der oben beschriebenen situativen Beziehungsgestaltung müsste vielmehr von Begleitung durch pädagogische Fachkräfte die Rede sein. Dabei würde deutlich, dass das Kind selbst die Deutungsmacht über sein Verhalten und seine Lernbedürfnisse hat.

Es bleibt festzuhalten, dass ‚Diagnosen‘ in pädagogischen Settings zuweilen zu der Annahme führen, ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ intervenieren zu können und somit pädagogisches Handeln leiten. Sie sollten eher als psychologisches Werkzeug betrachtet werden, das zur Finanzierung und Strukturierung von Maßnahmen notwendig ist – inwiefern sie im Sinne inklusiver Strukturen abgeschafft oder ersetzt werden sollten und können, muss an anderer Stelle diskutiert werden.

Bleibt die Frage, ob pädagogisch Tätige mutig genug sind, sich auf die jeweilige situative Beziehungsgestaltung in einer Haltung des Nicht-Wissens, Nicht-Verstehens, Vertrauens und Eingebundenseins einzulassen und Kindern so ermöglichen können, selbstwirksam zu handeln – beantworten kann diese Frage wohl nur jede_r für sich.

Literatur

Britten, Uwe (2017): Interview mit Tom Levold, Systemischer Psychotherapeut: „Wir dürfen ‚Sinn‘ nicht medikalisieren“. Deutsches Ärzteblatt, H. 1, Seite 16–17. www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=185491 (Afrage: 27.04.2020).

Dewe, Bernd/ Ferchhoff, Wilfried/ Scherr, Albert/Stüwe, Gerd (2011): Professionelles soziales Handeln: Soziale Arbeit im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. 4. Auflage. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Masurek, Martina (i.E., 2021): Situative Beziehungsgestaltung als Bestandteil pädagogischer Professionalität. Aspekte aus der Systemischen und Marte Meo (Beratungs‑) Arbeit. In: Nikodem, Claudia/Masurek, Martina/Eiberger, Meike (Hrsg.): Diskurse zu Geschlecht, Sexualität und sexualisierter Gewalt. Heterogene Beiträge aus Wissenschaft und Praxis. Opladen und Leverkusen: Verlag Barbara Budrich.

Melles, Marina (i. E., 2021): Diagnose Autismus: Plädoyer für eine ‚Aufgabe‘. In: Platte, Andrea (Hrsg.): Die Diagnose Autimus im Spiegel inklusiver Widersprüche.

Ritscher, Wolf (2004): Prinzipien und Verfahren systemischer Diagnostik in der Sozialen Arbeit. In: Heiner, Maja (Hrsg.): Diagnostik und Diagnosen in der Sozialen Arbeit. Ein Handbuch. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag, S. 68–84.

Wolf, Barbara (2019): Leibliche Dimensionen des pädagogischen Taktes. Vom Unwillkürlichen, Unverfügbaren und Unvorhersehbaren der pädagogischen Situation. In: Gugutzer, Robert/Uzarewicz, Charlotte/Latka, Thomas/Uzarewicz, Michael (Hrsg.): Irritation und Improvisation. Zum kreativen Umgang mit Unerwartetem. Freiburg und München: Verlag Karl Alber, S. 160–190.