von: Judith Chang
Seit 2014 herrscht in Donbass der bewaffnete Konflikt zwischen Russland und der Ukraine der bislang 13.000 Menschen das Leben kostete. Während viele ihre ostukrainische Heimat aus Sorge um sich und ihre Familien verließen, ist die alleinerziehende Mutter Anna mitsamt ihren vier Kindern geblieben. Sie hält die Stellung, um irgendwann, wenn der Krieg vorbei ist, die Stadt wiederaufzubauen.
In der Zwischenzeit müssen – Krieg hin oder her – der Haushalt geschmissen, die Kinder großgezogen, die Zukunft geplant werden. Myroslava, ihre älteste Tochter, möchte ihren großen Traum erfüllen und in Kiew Filmkamera studieren. Damit das klappt, muss sie einen Film einreichen. Myroslava, kurz Mira, inszeniert die traumatischen Momente des Lebens im Grenzgebiet, gibt Anweisungen an vorbeifahrende Soldaten, interviewt ihre Familienmitglieder und stellt Szenen im Schutzbunker nach, während nebenan zeitgleich echte Bomben fallen.
Die Regisseurin Iryna Tsilyk schenkt uns mit ihrem Dokumentarfilm aber gleich zwei Perspektiven: Miras Kamera zeigt den Krieg so, wie man ihn sich vorstellt: bedrohlich, zusammengepfercht, zerstörerisch. Irynas Kamera hingegen zeigt das Davor, das Danach, das ganze Dazwischen. Sie zeigt die Intimität der Familie, das Mitgefühl der starken Anna, die kleinen Momente des Alltags, in denen der gewaltvolle Konflikt nicht im Vordergrund steht. Dabei nutzen beide Frauen die Kamera als Zwischenmedium, um Erlebtes zu bewältigen. Das Narrativ ist bekannt: Das Buch im Buch, das Bild im Bild, der Film im Film. Der Unterschied ist jedoch: Nichts davon ist Fiktion. Miras Filmaufnahmen, die als Eintrittskarte in die Welt der Kinematographie fungieren sollen, sind zwar nachgestellte, in Szene gesetzte Bilder – beruhen jedoch auf der bitteren Realität bereits erlebter traumatischer Erfahrungen. Es ist nicht nur die Bombe, die tatsächlich fällt, sondern die permanente Angst vor ihr. Es ist die Ungewissheit, wann ein normales Leben wieder stattfinden kann, die den Menschen den sicheren Boden unter den Füßen verwehrt. Annas jüngster Sohn wird sich wohl nicht einmal an einen anderen Zustand erinnern können. Die große Frage, die sich stellt, ist: Was passiert mit den Zivilist*innen, die die direkten Konsequenzen eines politischen Konflikts ertragen müssen, an dem sie sich selbst nie beteiligt haben?
Dabei schafft die junge Filmemacherin es auf wundersame Weise, Bilder zu erzeugen, die die Schönheit im Schrecklichen zeigen, ohne dabei jemals die Menschlichkeit zu verlieren. Vielleicht ist ihre Bildsprache gerade auch deswegen so besonders, weil Iryna Tsilyk nicht nur Regisseurin, sondern auch Autorin ist. Ihre Gedichte, Lieder und Prosatexte wurden bei diversen internationalen Buchmessen vorgestellt und sind mittlerweile mehrfach übersetzt worden. The Earth Is Blue as an Orange ist ihr erster Dokumentarfilm in voller Länge, und er kann sich sehen lassen. Mehr noch: Er sollte sich sehen lassen. Denn wenn in den Nachrichten von toten Zivilist*innen die Rede ist, darf niemand vergessen, dass hinter dem Wort echte Menschenleben stecken. Mütter, Väter, Töchter und Söhne, die den sinnlosen Krieg mit dem wertvollsten bezahlen, was wir haben: dem eigenen Leben und den eigenen Träumen. Myroslava Trofymchuk hat glücklicherweise beides noch nicht verloren.