von Lada Dalbeck

Multiperspektivischer Blick – Narrative Verschiebungen im Erzählen über Behinderung

Am Beispiel von Raquel Palacios Wonder (2012, dt. Übers. 2013) und dem Folgeband Auggie & Me: Three Wonder Stories (2015, dt. Übers. 2017) stellt Schmerheim (2017, S.46ff.) zwei multiperspektivische Erzähltexte über ein Leben mit Behinderung vor.

„Was als Behinderung, als Beeinträchtigung, als Abweichung vom für normal Gehaltenen gilt, das ist abhängig von gesellschaftlichen Normen und Normalitätsvorstellungen.“… „In diesem Sinne ist der Umgang mit Behinderung ein Spiel mit Perspektiven, gespielt zwischen denjenigen Personen und Institutionen, deren Lebenswirklichkeit von dem, was „Behinderung“ genannt wird, geprägt ist und denen, die zwar nicht selbst von Behinderung betroffen sind, die aber durch ihr Verhalten mitbestimmen, wer und was im gesellschaftlichen Kontext als gesund, krank oder behindert gilt.“ (Schmerheim 2017, S.47)

Da die (Be)Deutung des Begriffes Behinderung in einem gesellschaftlichen Zusammenhang entsteht, ist sie dynamisch, veränderbar und multiperspektivisch. Im Vergleich zu den Erzählungen Heidi (1881), Vorstadt Krokodile (1976) oder Das war der Hirbel (1976), in denen die Erzählinstanzen außerhalb der Handlung stehen, gibt es auch Erzählungen, in deren die Protagonisten selbst aus ihrem Leben erzählen (Ich-Erzählungen) , z. B. die Rico, Oscar Trilogie (2008-2011). Eine Verschiebung der Narrative stellt der Roman Wunder von Raquel J. Palacios da, indem die verschiedenen Perspektiven mehrerer Erzählinstanzen beim Erzählen genutzt werden. In diesem Roman zeigen sich Inklusions- und Exklusionspraktiken „als Spiel mit Perspektiven, denn wer inkludiert oder exkludiert, entscheidet sich für eine bestimmte Sicht- und Verhaltensweise auf Behinderung. Behinderung ist keine Einbahnstraße, es gibt ein Mosaik verschiedener möglicher Betrachtungs- und Umgangsweisen, das sich in Wonder zu einem Gesamtbild formt.“ (Schmerheim 2017, S.53)

Narratologische Konzepte des multiperspektiven Erzählens

Multiperspektivisches Erzählen ist aus literaturhistorischer Perspektive nichts Neues; bereits die Evangelien des Neuen Testaments lassen sich als teils überlappende, teils einander widersprechende und insofern multiperspektivische Erzählungen auffassen (vgl. Hübenthal

2014, 314 ff., zit. nach. Schmerheim 2017, S.54). In der Neuzeit finden sich multiperspektivische Briefromane wie Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) von Sophie la Roche; auf den aktuellen Bestsellerlisten finden sich multiperspektivische Erzählungen, etwa Paula Hawkins’ The Girl on the Train (2014), Gillian Flynns Thriller Gone Girl (2013) oder auch Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2008). (vgl. Schmerheim 2017, S.54).

Der Roman Wonder – ein Spiel mit Normalitätserwartungen

Palacios multiperspektivische Erzählung ist eine Auseinandersetzung mit Normalitätser- wartungen, eine Auseinandersetzung, die dadurch erleichtert wird, dass der Hauptdarsteller August ein Sonderfall einer behinderten Figur ist: Streng genommen ist August lediglich ‚anders’ als Kinder in seinem Alter, weil er anders aussieht bzw. nicht den ästhetischen Normen der Gesellschaft entspricht (vgl. Schmerheim 2017, S. 58).

Bereits im ersten von August erzählten Kapitel beschreibt sich dieser wie folgt:

„Ich weiß, dass ich kein normales zehnjähriges Kind bin. Ich meine, klar, ich mache normale Sachen. Ich esse Eis. Ich fahre Fahrrad. […] Solche Sachen machen mich normal. Nehme ich an. Und ich fühl mich normal. Innerlich. Aber ich weiß, dass normale Kinder nicht andere normale Kinder dazu bringen, schreiend vom Spielplatz wegzulaufen. Ich weiß, normale Kinder werden nicht angestarrt, egal, wo sie hingehen.“ (Palacio 2013, S. 9)

August verknüpft hier sein ‚Nicht-Normal-Sein‘ mit Fremdwahrnehmung:

„Der einzige Grund dafür, dass ich nicht normal bin, ist der, dass mich niemand so sieht.“ (Palacio 2013, S. 9).

In dieser Erzählung geht es um das Auseinanderklaffen von Selbst- und Fremdwahrnehmung, über das Inklusion und Exklusion organisiert wird. So wird Augusts Selbsteinschätzung im Laufe des Romans von den anderen Ich-Erzählerinnen und Erzählern ergänzt, differenziert und kontrastiert. Beleuchtet werden in der Julian-Episode auch weitere soziale Komponenten von Augusts Stigmatisierung: So ist die Mutter von Julian gegen August und fährt erst implizit, später offen Kampagnen gegen den Schulbesuch des Augusts. Was in Wonder noch wie das unsoziale Verhalten einer eigensüchtigen Helikopter-Mutter erscheint, wird in der Julian-Episode zumindest teilweise durch die mütterliche Sorge um ihren traumatisierten Sohn erklärt (vgl. Schmerheim 2017, S. 62).

Die Kinder- und Jugendliteratur ist, mit einer Wendung Hannelore Dauberts, ein „Seismograph veränderter Kindheitsmuster“ (vgl. Daubert 1995, S. 60, zit. nach Schmerheim 2017, S. 62). Sie erspürt Themen und Veränderungen, die oft im Mainstream der Gesellschaft noch gar nicht angekommen oder unerkannt sind.

Die Erzählungen reflektieren den gesellschaftlichen Umgang mit menschlichen Lebens- wegen, die durch Beeinträchtigungen oder Besonderheiten geprägt sind. Sie zeigen in fiktionalisierter Form, dass das, was gesellschaftlich als Behinderung, als „dis-ability“ und somit als Nicht-Fähigkeit verstanden wird, sich eher als Geflecht unterschiedlich ausgeprägter Besonderheiten menschlicher Lebensweisen zeigt. Diese erweisen sich oft erst innerhalb der gesellschaftlich vereinbarten Normalität als Einschränkung, als Behinderung im Versuch, dieser gerecht zu werden (vgl. Schmerheim 2017, S. 62).

Das Interessante an der multiperspektivischen Disability-Erzählungen ist gerade die Vielfalt möglicher Perspektiven auf das Leben mit Behinderung. Der daraus resultierende Rollenpluralismus stellt somit eine Vielfalt an Identifikationsangeboten zur Verfügung (vgl. ebd.).

Quelle: Schmerheim, Philipp (2017): NARRATIVE VERSCHIEBUNGEN, Wonder und das Spiel mit Perspektiven auf Behinderung und Inklusion, INTERJULI 01 I 2017, S. 46-67
Palacio J.Rachel (2013): Wunder, Hanser Verlag, München