von Nina Bettex
Ästhetik – Begriffsklärung und einige Gedanken
Was ist eigentlich gemeint, wenn in diesem Portfolio die Rede ist von der „Ästhetik“ von Kinderbüchern? Wie sieht ein Buch aus, wie fühlt es sich an, ist es schwer oder ganz leicht, ist die Oberfläche glatt oder rau, hat sie eine Struktur, hat das Buch einen Geruch, wie dick sind die Seiten, lassen sie sich gut umblättern, zerknittern sie leicht, wie ist die Qualität des Drucks, wie differenziert sind die Farben, wie sieht der Text aus, die einzelnen Buchstaben, ist es viel Text oder wenig, wie klingt er, wenn ich ihn vorlese/laut lese, macht das Zuhören Spaß, wie klingen die aneinandergereihten Worte, wurden absichtlich bestimmte Worte verwendet (für den Klang, die Sprachmelodie…) oder ging es bei der Wortwahl „nur“ um Wiedergabe von Inhalten, wie gut passt die Geschichte zu den Bildern/die Bilder zur Geschichte, erfährt beides durch das jeweils andere eine Bereicherung, schaue ich mir gerne die Bilder an, kann ich mich in ihnen verlieren, provozieren Text und Bilder Assoziationen, welche Stimmung hinterlässt das Buch …
Diese noch lange nicht vollständige Liste von Aspekten eines Kinderbuches kommt mir in den Sinn, wenn ich versuche zu beschreiben, was ich mit „Ästhetik von Kinderbüchern“ meine. Die Mehrheit dieser Aspekte ist über den Leib, d. h. mit den fünf Sinnen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) erfahrbar. Der Begriff Ästhetik leitet sich von dem griechischen Wort aisthesis ab, welches eben diese „einfache“ Sinneswahrnehmung meint (vgl. Borg 2012, S. 5). Von ästhetischer Wahrnehmung wird gesprochen, wenn die alltägliche sinnliche Wahrnehmung mit den fünf Sinnen (aisthesis) als solche wahrgenommen, d.h. bewusst wird (vgl. Dietrich u. a., 2012, zit. nach Borg 2012, S. 5). Auch in dieser Begrifflichkeit steckt, wie bei aisthesis auch, noch keine Bewertung. Ästhetische Wahrnehmungen können angenehme wie auch unangenehme Gefühle verursachen. Umgangssprachlich wird der Begriff Ästhetik/ästhetisch jedoch meist positiv wertend verwendet, nämlich dann, wenn wir etwas besonders schön, harmonisch oder geschmackvoll finden. So bezeichnete bis zum 19. Jahrhundert die Ästhetik vor allem die Lehre von der Schönheit, von Gesetzmäßigkeiten und Harmonie in der Natur und Kunst (vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/Ästhetik). Wenn ich also von „Ästhetik von Kinderbüchern“ spreche, dann habe ich in erster Linie Bücher im Sinn, die mir gut gefallen, die ich schön und geschmackvoll finde. Ein wichtiges Auswahlkriterium für ein Buch ist für mich z. B. die Materialität, darunter verstehe ich nicht nur das verwendete Material, sondern auch die Qualität der Verarbeitung, des Drucks, die Differenziertheit der Farben usw. Aber das, was ich schön finde, ist eine subjektive Entscheidung, ist mein persönlicher Geschmack und über den lässt sich bekanntlich streiten. Aber wie entsteht „Geschmack“, warum gefällt uns etwas und etwas anderes wiederum nicht? Auf diese Frage antwortet Winfried Menninghaus, Direktor des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in einem Interview:
Der erste Faktor, der das Gefallen bestimmt, ist schlicht und einfach, was Sie wie oft schon vorher gesehen oder wahrgenommen haben. Das nennt sich das Familiaritätsprinzip, die stärkste Determinante des ästhetischen Gefallens. Sie erklärt auch, warum ästhetischer Geschmack kulturell und individuell verschieden ist – und warum es so schwer ist, etwas Allgemeines über das ästhetische Empfinden auszusagen (Menninghaus 2016).
Der Geschmack oder auch das ästhetische Urteilsvermögen, das man an den Tag legt, ist also nicht nur etwas individuelles, sondern lässt darüber hinaus Rückschlüsse auf unseren individuellen Stil, unsere Lebensführung und unsere (kulturelle und soziale) Herkunft zu (vgl. Illing 2006, S. 13, zit. n. Schinkel; Hermann 2017, S. 12). Unser Geschmack wird, ob wir wollen oder nicht, durch unsere direkte Umgebung, die Dinge, mit denen wir uns umgeben oder von denen wir umgeben sind, beeinflusst. So äußert auch Menninghaus: „Zunächst wird alles, was Sie als Kind erleben, in Ihren „Geschmack“ eingehen. Welche Bücher Ihnen Ihre Eltern vorlesen, welche Möbel in der Wohnung stehen, welche Lieder sie singen, welche Sprache sie sprechen.“ (Menninghaus 2016)
Wenn ich nun bei der Auswahl von Büchern einen Schwerpunkt auf ästhetische Kriterien lege, dann deshalb, weil ich diesbezüglich die Erfahrung einer sehr starken Prägung gemacht habe (siehe auch 3. Prozessbaustein, Exkurs: Waldorfästhetik) und daher sensibilisiert dafür bin, welche Bedeutung die einen umgebenden Dinge haben können. Zum anderen verbirgt sich in „meiner“ Buchauswahl aber auch eine Absicht; denn ich wünsche mir, dass Kinder einen Zugang zu Literatur und Sprache finden und ein „einfacher“ Zugang sind die lustvollen Empfindungen von Schönheit, Faszination, aber auch Sehnsucht, Wehmut oder Trauer, die Bilder/Wörter/Geschichten auslösen können. Diese lustvollen Empfindungen resultieren aus einem ästhetischen Erleben, welches auch als ästhetische Wahrnehmung, ästhetische Erfahrung oder ästhetische Erkenntnis bezeichnet wird und welches sich von der sinnlichen Wahrnehmung (aisthesis) dahingehend unterscheidet, dass es „seinen Zweck in sich selbst trägt“ (Dietrich u.a. 2012, S. 16). Nun kann ich aber nicht davon ausgehen, dass die Dinge bzw. Bücher, die mir ein ästhetisches Erleben ermöglichen, dies auch bei anderen Personen tun. Diesem Dilemma lässt sich begegnen, in dem man das Kind/die Kinder in ihrem individuellen Erleben beobachtet, das Verlangen eines Kindes nach dem Vorlesen des immer gleichen Buches könnte z. B. ein Indiz für ein ästhetisches Erleben sein. Aber auch das eigene ästhetische Erleben bietet Orientierung, denn die eigene Begeisterung und Freude oder die Art und Weise, wie wir etwas vorlesen, ist ebenso von Bedeutung, wenn es uns darum geht, das Interesse der Kinder zu wecken. Letztendlich ermöglicht aber eine breite Palette an unterschiedlich gestalteten Büchern, unterschiedlichen Stilen und Ästhetiken dem jeweiligen Kind am ehesten das Erleben von ästhetischen Momenten und das Ausbilden eines eigenen Geschmacks.
Exkurs: „Waldorfästhetik“
„Seit ich selbst ein Kind habe, das Bücher sehr liebt, ist mir etwas aufgefallen: Die Kinderbücher, an die ich mich aus meiner eigenen Kindheit erinnere, sind anders. Anders als all die Bücher über Bauernhöfe und Bagger und Eulen, die unser 2-jähriger hat. Inwiefern anders? Die Kinderbücher meiner Kindheit haben mir nicht beigebracht, wie viele Eier eine Henne pro Tag legt oder was der Unterschied zwischen einem Raupen- und einem Radbagger ist. Unsere Kinderbücher waren voller Märchen, Fantasie und Magie. Es gab dort Elfen und Zwerge und Wunder, und vor allem gab es unglaublich schöne Bilder.“ *1
Diese im Internet gefundene Aussage einer Mutter gebe ich hier gerne in voller Länge wieder, da es sehr gut das beschreibt, was viele Eltern erleben, die in – ich nenne es jetzt mal: „anthroposophischen Sphären“ groß geworden sind und die sich nun auf die Suche machen nach Büchern für die eigenen Kinder. Es gibt einen Unterschied, den man nicht so leicht fassen kann und es lässt sich kaum eine Grenze ziehen, das „anthroposophische Kinderbuch“ existiert nicht als solches. Es gibt anthroposophische Verlage (mehr als 60), z. B. Urachhaus, Freies Geistesleben und Mellinger, um nur die Bekanntesten zu nennen und es gibt typische Geschichten/Erzählungen und typische Bilder/Illustrationen (Abb. 1 – 4). Aber auch Kinderbuchklassiker, wie die von Astrid Lindgren, finden in „Waldorfkreisen“ die volle Anerkennung, nicht zuletzt werden Märchen, Sagen und Legenden sehr geschätzt.
Die Waldorfschulen sind im weitesten Sinne Orte der „Sinnesschulung“, der ästhetischen Bildung, nicht nur in der Hinsicht, dass sehr viel künstlerisch, handwerklich und musikalisch „gearbeitet“ wird, sondern auch bezogen auf das gesamte Schulgebäude, die Räume, die Materialien, die Farbgebung. Alles ist „durchgestaltet“, angefangen bei der Architektur und der Innenausstattung der Klassenräume bis hin zu den Jahreszeitentischen und den liebevoll gemalten Tafelbildern der Klassenlehrer, besonders in den Klassen der Unterstufe. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich auch das Kinderbuch diesem ästhetischen Anspruch nicht entziehen kann. Der waldorf-spezifischen Ästhetik liegt eine bestimmte Weltanschauung – die Anthroposophie und das anthroposophische Menschenbild zugrunde. Dies wird in folgendem Zitat sichtbar, in dem Aussagen zu Bildern in Büchern für kleine Kinder getroffen werden:
„Die Farbigkeit der Bilder, ihre Formen, auch die Sprache und die Bildinhalte werden vom Kinde viel unmittelbarer erfahren als vom Erwachsenen. Das Kind erlebt eine Farbenkomposition als Totalität, als Stimmung, als Klang. […] Deshalb sollten die Farben weder symbolisierend noch willkürlich verwandt werden oder gar das kindliche Empfinden durch ihre Grellheit verletzen. Während das Kind in die Farbigkeit guter Bilder eintaucht und wie träumend darin lebt, sprechen es die Formen, die Gestalten in den Bildern aufweckend an. Auch sie hinterlassen wesentliche Eindrücke. Sie sollten deshalb klar, eindeutig, richtig, das heißt wahr sein. Die Konturen sollten jedoch nicht gezeichnet werden, sondern sich aus der Farbe ergeben, damit das Auge nicht wie fixiert schauen muss, sondern die Gestaltungen aus innerer, mitschaffender Regsamkeit heraus ‚umgreifen‘ kann. Das wirkt belebend auf das Kind. Seine Eigenbewegungskräfte werden tätig, es kann sich dadurch innerlich orientieren und seine eigenen Vorstellungen bilden.“ *6
In diesem Zitat deutet sich die Problematik der Ästhetik der Waldorfpädagogik an, es wird nicht nur klar zwischen guten und schlechten (Grellheit der Farben) Bildern unterschieden, darüber hinaus weiß der/die Erwachsene (in diesem Fall die Autorin), welche Wirkung ein Bild auf Kinder hat und welche Empfindungen es auslöst. Die ästhetischen Kriterien sind demnach sehr streng, Comics waren zu meiner Schulzeit (in den 1980ern) z. B. verboten. Das hat sich heute zum Glück geändert, dennoch finden sich immer noch „Reste“ dieses Dogmatismus. Ein Anliegen der Waldorfpädagogik, besonders bezogen auf jüngere Kinder, ist, ihnen ein Aufwachsen in einer schönen, guten und heilen Welt zu ermöglichen. Bezogen auf die Buchauswahl kann dies jedoch dazu führen, dass nur bestimmte Bücher den Weg zum Kind finden, also die Gefahr einer „single story“ (Chimamanda Adichie 2009) hinsichtlich der Buch- Ästhetik besteht.
„Schöne“ Bilder
Schon der Volksmund weiß; Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Was kann also über „schöne“ Bilder gesagt werden, wenn es objektive Kriterien für Schönheit scheinbar nicht gibt? Zumindest kann ein Minimum an Gestaltung verlangt werden, denn genauso, wie aus vielen Tönen nicht unbedingt Musik wird, entsteht aus Farben, Formen und Linien nicht automatisch ein Bild. Nicht nur Gemälde, Fotos oder andere künstlerische Arbeiten, auch Bilder in Kinderbüchern sollten bewusst gestaltet oder – musikalisch ausgedrückt – komponiert werden.
Zunächst gibt es eine Geschichte, bzw. einen Text, zu dem sich die Bilder*7 in einer definierten Art und Weise verhalten sollten (natürlich können auch die Bilder zuerst da sein, dann sollte sich entsprechend der Text entwickeln). Die Bilder können z. B. den Inhalt des Textes wiedergeben und/oder ihn darüber hinaus ergänzen. Sie können aber auch ganz unterschiedliche oder sogar dem Text widersprechende Informationen vermitteln. Alles ist erlaubt, es sollte jedoch absichtsvoll, d.h. als bewusst eingesetztes Stilmittel verwendet werden. Dann werden die Bilder „komponiert“, dafür gibt es bestimmte Regeln oder „Tricks“: Bildtiefe kann z. B. durch die Anordnung der Bildelemente erreicht werden (große Elemente sind vorne, kleine hinten) aber auch durch Farbe (hell = vorne, dunkel = hinten) oder auch durch „Unschärfe“ (hinten) bzw. sehr detaillierte Darstellungen (vorne). Dynamisch werden Bilder durch den Einsatz von Diagonalen oder starken Farbkontrasten, eine eher beruhigende Wirkung haben Ton-in-Ton- Kompositionen mit einer Betonung von horizontalen und vertikalen Linien. Spannung kann durch starke Hell-Dunkel Kontraste erzeugt werden oder auch durch eine dezentrale Anordnung der Bildelemente*8. Bei einer Bildkomposition kommt es nicht auf die „richtige“ Anwendung dieser Regeln an, es sollte dem Bild jedoch anzumerken sein, dass der/die Illustrator*in bewusst mit ihnen gespielt hat.
Rezension mit besonderer Berücksichtigung der Buchgestaltung: Klumpedump und Schnickelschnack
Bild: Bettina Stietencron, Text: Hedwig Diestel
Verlag Freies Geistesleben
Hardcover, 12 Seiten, 16 x 14 cm, durchgehend farbig illustriert ISBN: 978-3-7725-1444-9, Preis: € 8,00
Dieses kleine Büchlein erzählt die Geschichte der Zwerge Klumpedump und Schnickelschnack und des Riesen Ungestalt, die alle drei in einem tiefen Wald wohnen. Der Riese schläft und die Zwerge schleichen an ihm vorbei, um ihn nicht zu wecken. Denn dann holt er sie. Warum der Riese die Zwerge fangen will und was das für diese bedeuten würde, wird offen gelassen. Angst scheinen die Zwerge aber nicht zu haben und richtig böse sieht der Riese auch nicht aus. Vielmehr erinnert diese Geschichte an ein Versteck- bzw. Fangen-Spiel zwischen Groß und Klein. Die Übersichtlichkeit der Geschichte setzt sich in Text und Bild fort. Zwei bzw. vier Zeilen gereimter Text finden sich im Wechsel auf jeweils einer Doppelseite. Pro Doppelseite gibt es ein Bild, manchmal nur auf einer Seite, sonst über beide Seiten, besonders dann, wenn der Riese dargestellt wird (und Platz braucht). Die Bilder zeigen sich in einfacher, gleichbleibender Farbigkeit; für Wald und Riese werden grüne, braune und diverse „Schmutztöne“ verwendet, die Zwerge beleben diese Waldatmosphäre mit leuchtendem rot, gelb und blau. Diese sich wiederholende Farbkomposition hat etwas angenehm Gleichförmiges, wodurch man – mangels Ablenkung – sich ganz in diese simple Geschichte hineinbegeben kann. Die angewandte Technik, vermutlich eine Kombination aus Aquarell und Farbstiften, gibt in ihrer Transparenz und feinen Zeichnung die humorvolle Leichtigkeit der Geschichte und die Zartheit der Zwerge wieder. Bild und Sprache entsprechen sich und erfahren durch das jeweils andere eine gesteigerte Wirkung (siehe Abb. 5 und 6), auch die bildliche Umsetzung der „Silbersäckchen“ überzeugt, entspricht ihre zipfelige Form doch viel eher diesem Wort, als wenn dort ein „schwerer Nikolaussack“ zu sehen wäre (siehe Abb. 7).
„Schöne“ Sprache: Reime
Das ästhetische Wiesel
Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel. Wisst ihr weshalb?
Das Mondkalb verriet es im Stillen: Das raffinierte Tier
tat ́s um des Reimes Willen.
– Christian Morgenstern
Die Sprache im Kinderbuch kann, ebenso wie ein Bild, viel mehr sein, als lediglich die Vermittlerin von Inhalten. Wenn es darum geht, Kinder für Sprache zu begeistern, ihnen ästhetisches Erleben über die Sprache zu ermöglichen, dann bieten sich Geschichten in Reimform an. Die Freude an der Verdoppelung gehört zu den ersten Erfahrungen mit Sprache (z. B. Mama, Papa, dada usw.), aber auch älteren Kindern machen Reime Spaß, sie sind leicht zu merken und nachzusprechen. Dabei steht nicht unbedingt der Inhalt im Vordergrund, sondern der Klang und die Freude an den gereimten Worten. Besonders kleine Kinder sind für Melodie und Rhythmus der Sprache sehr empfänglich. „In unserer Sprache entsteht der Sprechrhythmus aus langen und kurzen Vokalen, aus betonten und unbetonten Silben. Melodie, Rhythmus und Akzentuierung sind die Klangmerkmale von […] Sprache.“ (Näger 2013, S. 29). Kinder eignen sich Sprache durch das Hören und Nachahmen dieser Klangmerkmale an. Für die spätere Literarisierung*9, so schreibt Näger, ist es entscheidend, dass Kinder Sprachklang, Sprachrhythmus und Reim erleben (vgl. ebd.). Neben dem Erwerb der Grundfertigkeiten rund um Erzähl- Sprach- und Schriftkultur, kann „schöne“ oder gereimte Sprache ein Zugang zu Geschichten sein. Über das ästhetische Erleben der Sprache kann eine Geschichte den Weg zu uns finden und zu einer eigenen Erfahrung und somit Teil unserer eigenen Geschichte werden (siehe auch Prozessbaustein 1). Reime im Kinderbuch sind aber kein Garant für „schöne“ Sprache. Auch hier, wie bei den Bildern, wird Sprache schön, wenn sie als stimmig erlebt wird, wenn sie Inhalte der Geschichte und Informationen der Bilder in passenden Worten und Sätzen wiedergibt.
Ein Beispiel für eine in Reimform erzählte und als besonders stimmig empfundene Geschichte, ist „Onkel Tobi“. Onkel Tobi fährt zum Einkaufen in die Stadt. Seine „Einkaufsliste“ bzw. alle Dinge, an die er denken muss, will er im Kopf behalten, obwohl er so vergesslich ist. Daher sagt er die Dinge für sich immer wieder auf: „Einen Besen für den Stall, für die Katze einen Ball, für die Äpfel eine Schüssel und den neuen Haustürschlüssel“. Diese gereimte Aufzählung wird in unterschiedlichen Formen wiederholt: „Für die Katze einen Ball, einen Besen für den Stall und den neuen Haustürschlüssel; und was sonst noch? Ach natürlich – für die Äpfel eine Schüssel!“, oder „eine große Apfelschüssel“. Hier wird mit Rhythmus und den einzelnen Wörtern gespielt. Am Ende hat Onkel Tobi dann doch etwas vergessen, weil er sich auch noch einige Dinge, die er seinen Nachbarn mitbringen soll, merken musste. Das klingt dann so: „Draußen plitscht und platscht der Regen. Onkel Tobi pfeift und lacht und er beginnt zu überlegen, was er alles mitgebracht: gibt der Katze ihren Ball, stellt den Besen in den Stall, legt die Äpfel in die Schüssel – aber halt – war nicht noch was? Ach – der neue Haustürschlüssel!“ Wenn man dieses Buch vorliest, ist ganz klar, was nach dem Fragezeichen geschieht, es ist eine Aufforderung, der die meisten Kinder nicht wiederstehen können und sie wissen; es war der neue Haustürschlüssel, den Onkel Tobi vergessen hat. Auch durch Sätze wie: „Draußen plitscht und platscht der Regen“ entstehen Bilder und Gefühle, eine innere Beteiligung, die bei dem Satz „Draußen regnet es.“, der die gleiche Information enthält, unwahrscheinlicher sind.
Onkel Tobi Bilder: Sigrid Hanck Text: Hans G. Lenzen
Sigbert Mohn Verlag Gütersloh (Erstausgabe 1963)
Diese Geschichte gibt es (mittlerweile nur noch bzw. sonst antiquarisch) in einem Sammelband mit noch drei weiteren Onkel Tobi-Geschichten:
Viel Spaß mit Onkel Tobi. Alle Geschichten in einem Band.
Hardcover, Pappband, 128 Seiten, 21,0 x 23,2 cm, durchgehend farbig illustriert ISBN: 978-3-570-12089-7
Preis: € 15,00
Manifest
Aus den vorangegangenen Texten ergeben sich folgende Punkte, die unser Manifest erweitern könnten:
- Kinder haben ein Recht auf in Bild und Sprache gestaltete Bücher.
- Kinder haben ein Recht auf Bücher unterschiedlicher Stile, Ästhetiken/Kulturen und Entstehungszeiten (Kinderbuchkulturgut!).
- Kinder haben ein Recht auf ihren eigenen Geschmack.
*1 https://rubbelbatz.de/anthroposophische-kinderbuecher/
*2 *3 *4 *5 Bildquellen: https://www.glomer.com/
*6 Brunhild Müller, Bilderbücher mit beweglichen Figuren. Stuttgart: 1988, S. 10., zit. n. Schmoller, Ulrike (1992): Literaturvermittlung in der Waldorfpädagogik. Überlegungen zu einer anthroposophisch orientierten Bibliotheksarbeit. Diplomarbeit im Studiengang Öffentliche Bibliotheken der Fachhochschule für Bibliothekswesen Stuttgart. http://www.litterula.de/litterula.html
*7 Der Begriff ́Bilder ́ wird hier synonym verwendet für Zeichnungen, Illustrationen, Drucke, Collagen etc.
*8 Viele dieser Hinweise stammen von der Illustratorin Nina Wolters, die sie uns im Rahmen einer Seminarsitzung erläutert hat.
*9 Literarisierung meint in diesem Kontext nicht nur die Lese- und Schreibkompetenz, sondern bezieht alle Grundfertigkeiten rund um Erzähl- Sprach- und Schriftkultur mit ein (vgl. Näger 2013, S 11).
Literatur
Borg, Kathrin (2012): Ästhetische Bildung. Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung, Themenheft Nr. 7. ISBN: 978-3-94-3677-06-5
Dietrich, Cornelie; Krinninger, Dominik; Schubert, Volker (2012): Einführung in die ästhetische Bildung. 2. Auflage. Beltz Juventa. Weinheim und Basel. ISBN: 9783779921806
Menninghaus, Winfried (2016): https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin /2016/geschmack/der-mensch-ist-ein-homo-aestheticus. [Zugriff: 12.06.2020].
Näger, Sylvia (2013): Literacy. Kinder entdecken Buch-, Erzähl- und Schriftkultur. Verlag Herder GmbH. Freiburg im Breisgau. ISBN: 978-3-451-32438-3
Schinkel, Sebastian; Hermann, Ina (2017): Ästhetiken des Alltags im Aufwachsen, In: Schinkel, Sebastian; Herrmann, Ina (Hg.): Ästhetiken in Kindheit und Jugend. Sozialisation im Spannungsfeld von Kreativität, Konsum und Distinktion. Transcript Verlag. Bielefeld. ISBN: 978-3-8394-3483-3