„Alle behindert!“ - ??
von Andrea Platte
Alle behindert – das ist die Message des Buches vom Klett Kinderbuch Verlag und das Gedankenspiel überzeugt und gibt sich durchaus ‚inklusiv‘: Wir alle, so scheinen die Steckbriefe zu sagen, haben etwas, ja sogar vieles gemeinsam. Auch dass das Thema „Behinderung“ zur Sprache kommt, sichtbar wird, Platz findet, mag als ‚inklusiv‘ gelten – denn das ist immer noch in wenig (Kinder)Büchern der Fall. Ganz so leicht ist ‚Inklusion‘ dann allerdings nicht zu haben, und so stellen sich bei längerem Betrachten des Buches Fragen und Zweifel ein: Den Behinderungen haftet ebenso wie den Charaktereigenschaften der dargestellten Kinder etwas „Defizitäres“ an, spätestens die Frage „geht das weg?“ verrät, dass es überwunden werden will und zumindest im Fall der „echten“ Behinderungen nicht ‚weg geht‘. Diese Differenz zu leugnen, wäre eine Banalisierung von Beeinträchtigungen und solche begleitender Beschwerden und Benachteiligungen, die a) nicht ohne weiteres empathisch nachzuvollziehen sind und b) wenig gemein haben mit dem Label „Tussie“ oder „Mitläufer“. Die recht einfachen Erklärungen zur Genese der versammelten Behinderungen vermitteln zwar einige diagnostischen Fakten, präsentieren aber auch die Unzulänglichkeit kausaler Verweise, wo es um komplexe Zusammenhänge wie kindliche- /menschliche Verhalten und Entwicklungen geht: Verwöhnung und Missachtung von Eltern verursachen den ‚Angeber‘? Und in aller Paradoxie – denn das war gerade nicht die Absicht! – vollzieht der Versuch, das Gemeinsame herauszustellen, in (unvermeidlichen oder unbemerkten?) Zuschreibungen Generalisierungen, die Bilder von Behinderung manifestieren und Besonderheiten reproduzieren (Anna hat – leider – einen Topfhaarschnitt und die Zunge raus). Da wird vor allem deutlich: Einfache Erklärungen reichen nicht aus, wenn es um kindliche Entwicklung, um menschliche Eigenheiten und Interaktionen (kann ein Mitmach-level messbar und bleibend sein?) geht und gerade da, wo diese ‚inklusiv‘ betrachtet werden, muss Erklärbares sich immer wieder hinterfragen und reflektieren lassen. Dazu lädt das Buch nicht ein.
Briefwechsel mit dem Klett-Verlag über das Buch ,,Alle behindert‘‘
Sehr geehrte Damen und Herren, Köln, den 30.01.2020
im Rahmen unseres Studiums „Pädagogik der Kindheit und Familienbildung“ haben wir uns innerhalb des Seminars „(Kinder) Literatur & (Schrift)Sprache“ mit dem Werk „Alle Behindert“ auseinandergesetzt. Nie zuvor haben wir uns im Seminar über ein (Kinder-)Buch so intensiv und umfassend unterhalten. Dabei sind in der Diskussion einige Fragen aufgekommen, bei deren Beantwortung Sie uns evtl. weiterhelfen können. Gerne würden wir uns mit der Autorin oder einer zuständigen Peron des Verlages hierrüber austauschen:
- Was ist das grundlegende Konzept?
- Wie ist das Buch zustande gekommen? Nach welchen Kriterien wurden Kinder und Eltern ausgewählt? Welche Expertise wurde hinzugezogen?
- Wer ist die Zielgruppe/Adressaten? Für wen ist der Inhalt (besonders) relevant? Personen mit oder ohne Beeinträchtigung? Welche Altersklasse?
- Wird der erfahrungsorientierte soziale Umgang von Kindern nicht unnötig mit „Sachinformationen“ belastet?
- Was bedeutet das Mitmachlevel? Wie wurde es festgestellt?
- Wie wurden die Kinder befragt?
- Welche Kinder mit welchen Beeinträchtigungen/Behinderungen wurden befragt?
- Wird durch die „Gleichstellung“ die strukturelle Benachteiligung nicht überdeckt?
- Wo kommen die Fragen/Unterüberschriften („Geht das wieder weg“) her, wie wurden diese ausgewählt?
- Wonach wurden die „Behinderungen“ ausgewählt, die nicht diagnosefähig oder klassifizierbar sind?
- Warum wird nicht kenntlich gemacht, welche Merkmale behinderungsbedingt sind und bei welchen es sich um individuelle Eigenschaften handelt?
- Wie wurde folgendes Phänomen berücksichtigt: Zuschreibung kann/wird zu Selbst-Zuschreibung?
- Hierarchien werden dekonstruiert aber durch die Mitmach-Skala auch neue konstruiert?
Sie sehen, das Interesse an diesem Werk ist enorm und hat viele Gedanken angeregt. Gerne möchten wir Sie zu einer Diskussion in unser Seminar einladen. Wir planen eine Ausstellung zu Thema „Kinderbücher“ am 25.6.2020 und in deren Rahmen eine Diskussion – hätte jemand vom Verlag oder vom Autor*innenteam Zeit und Interesse, daran teilzunehmen? Alternativ könnten wir auch einen flexibleren Termin in der Woche vom 11.-15. Mai vereinbaren. Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung!
Hallo liebe BriefeschreiberInnen, Leipzig, 07.02.2020
vielen Dank für Ihr Schreiben. Ihre Fragen haben uns ein bisschen ratlos gemacht. Grundsätzlich können wir nur auf eine Tatsache hinweisen, über die Sie sich vielleicht nicht im Klaren waren: „Alle behindert!“ ist ein Kunstwerk. Es ist weder eine reine Dokumentation noch ein pädagogischer Ratgeber. Wir sind nur unserem Gewissen als Urheber verpflichtet. Vor diesem Hintergrund fühlt sich das Lesen Ihrer Fragen für uns so an, als würden sie von Außerirdischen vom Planeten Pädagogien gestellt, die in ganz anderen Kategorien denken als wir beim gemeinsamen Machen dieses Buches.
Um diese Entfernung ansatzweise zu überwinden, versuchen wir Ihnen gerne Ihre Fragen zu beantworten. Sie können selbst auch etwas tun, um den Abstand zu verkleinern: Wir würden uns wünschen, dass Sie, jede für sich, mal kurz in sich gehen und sich einfach mal ganz ergebnisoffen und wenn möglich ohne jedes Vor-Urteil überlegen, warum wir dieses Buch wohl so gemacht haben könnten, wie wir es gemacht haben. Danke.
Danke auch für die Einladung zur weiteren Diskussion. Wir sind ja beide in unseren Berufen stark eingespannt und haben leider keine Zeit dafür. Vielleicht wird auch schon einiges aus unseren Antworten unten deutlich und hilft zu einem besseren Verständnis.
Viele Grüße aus Leipzig und Krefeld Monika Osberghaus und Horst Klein
Antworten auf die Fragen aus dem Seminar:
Das ergibt sich aus dem Titel. Dahinter stand der Wunsch, ein etwas direkteres, frecheres Kinderbuch zum Thema anzubieten als das bislang Übliche, das uns oft langweilig erschien und vielleicht eine richtige Botschaft transportierte, aber Kinder nicht herausfordert. Denn vor allem natürlich wollen wir Inklusion nach beiden Seiten fördern, also auch Inklusion der Kinder ohne Behinderung. Das inhaltliche und formale Konzept erkennen Sie, wenn Sie das Buch anschauen (wie ein Freundebuch etc.)
Es war eine Idee von Horst Klein. Wir haben keine Kinder und Eltern „ausgewählt“, sie sind zu uns gekommen nach einem Facebook-Aufruf. Wir hatten mehrere FachberaterInnen, die wir in der Danksagung nennen (einschlägig bewanderte Sozialpädagogen, Lehrerinnen, Krankenpfleger). Auch die mehr als 250 Mitmacher haben wir als Experten betrachtet.
Alle. Für alle und jedes Alter.
Nein.
Es bedeutet das Ausmaß der möglichen Teilhabe im Alltag. Nach Gefühl, und auch entsprechend der Berichte der Mitmacher.
Per Internetaufruf vor allem über Facebook und dann per Fragebogen.
Alle, die mitmachen wollten.
Nein. Die Unterschiede werden ja klar, wenn man das Buch liest.
Die Fragen und Unterüberschriften haben wir unsausgedacht.
Nach Gefühl und Erfahrung.
Dazu sahen wir keine Notwendigkeit und zu unserer „Alle sind behindert“-Grundaussage hätte es nicht gepasst, da Unterschiede festzusetzen. Darüber kann jeder Leser selbst nachdenken.
Gar nicht.
Finden wir nicht. Der Mitmachlevel ist ein Hinweis, keine Hierarchisierung. Eine Einladung zum Selberdenken, zur Einfühlung und zum Gespräch, wie alles in diesem Buch.
Sehr geehrte Frau Osberghaus, sehr geehrter Herr Klein, Köln, 08.02.2020
herzlichen Dank für Ihre schnelle und differenzierte Antwort an die BriefeschreiberInnen im BA Pädagogik der Kindheit und Familienbildung – stellvertretend von mir als Lehrende im betreffenden Seminar, denn: Der außerirdische Planet Pädagogien ist derzeit nahezu verlassen (vorlesungsfreie Zeit) und so erlaube ich mir eine Antwort. Ich nehme damit nicht in Anspruch, für die Gruppe zu sprechen, sondern ich möchte meinerseits an die sehr spannende Diskussion anknüpfen: Es wäre schade, hier abzubrechen, denn sie trifft tatsächlich einen Kern des „Inklusionsdiskurses“, der – wie beide Briefe zeigen – kontrovers und ohne Auseinandersetzung mit (den ihm eigenen und anderen) Kontroversen nicht zu denken ist. Ich versichere Ihnen zunächst – vielleicht verringert das den Abstand nach Pädagogien? -, dass es nicht schwer fiel, bei der ersten Begegnung mit dem Buch „Alle behindert?“ die Absicht der Autor*innen zu erahnen. Das war beim Besuch im Bilderbuchmuseum Troisdorf und es wird Sie erfreuen, dass das Buch im Anschluss von einigen Teilnehmenden käuflich erworben wurde: Auf der Suche nach Protagonist*innen in (Kinder)Büchern, die vom ‚Mainstream‘ abweichen, war im Seminar aufgefallen, dass keiner der „fünf Freunde“ im Rollstuhl sitzt, dass es wenig schwarze Helden in deutschsprachigen Kinderbüchern gibt und auch kaum diverse Bilder von Familien. „Alle behindert“ findet und füllt da tatsächlich eine Lücke und das zu einem Zeitpunkt, zu dem niemand sich der Diskussion um Inklusion entziehen kann – zumindest im Bildungskontext. Kinder mit Behinderungen sind ‚mittendrin‘ in Ihrem Buch, sind sichtbar, ansprechbar, nicht vergessen, nicht tabuisiert. Die ebenso unschwer erkennbare Absicht, die Dichotomie zwischen „behindert“ und „nicht behindert“ aufzuheben, ist ein Anliegen vieler Bewohner*innen Pädagogiens, vor allem dann, wenn sie sich auf eine inklusive Pädagogik berufen.
Auch die „Einladung zum Selberdenken, zur Einfühlung und zum Gespräch“, die aus dem Buch spricht, ist bei uns und im Seminar angekommen. Die im Brief formulierten Fragen folgten dieser; sie stellten sich (ein) im längeren und gemeinsamen Betrachten und Lesen der Steckbriefe und sie zeigen: „Inklusion“ ist komplex, bleibt kontrovers, sperrt sich gegen kausale Erklärungen und Generalisierungen, ist auf unterschiedliche Perspektiven angewiesen, wirft permanent Fragen auf.
So und ähnlich hat das Buch uns zu Diskussionen angeregt und die im Brief formulierten Fragen waren als Anstöße, Hinweise, Zusammenfassungen zu verstehen – umso erstaunlicher, dass sie Punkt für Punkt so klar beantwortet werden können. Wenn wir die Einladung zum Gespräch beim Wort nehmen dürfen, lade ich noch einmal ein zum Weiterdenken im Rahmen der Ausstellung am 25.6. oder auch seminarintern an einem anderen Termin im Mai oder Juni.
Viele Grüße aus Köln,
Andrea Platte
Antwort per Mail (17.2.2020):
Sehr geehrte Frau Platte,
danke für die rasche Reaktion, freut uns!
Wie gesagt, zu den genannten Terminen können wir nicht und überhaupt sind wir durch unsere weit entfernten Wohnorte und unsere beruflichen Pflichten nicht so leicht für Veranstaltungen zu haben, aber falls sich irgendwann ein- mal eine gute Gelegenheit zum Weiterdiskutieren ergibt, machen wir gerne mit.
Viele Grüße an die Runde, auch im Namen von Horst Klein
Monika Osberghaus